Seit dem 19. Jahrhundert wurden im Bereich des Fremdsprachenunterrichts zahlreiche Methoden der Grammatikvermittlung entwickelt. Betrachtet man die Methoden in chronologischer Reihenfolge, so ist leicht feststellbar, dass sich die Rolle der Grammatik im Unterricht allmählich von einer primären (vor allem in der Grammatik-Übersetzungs-Methode) zu einer anderen Komponenten untergeordneten (vor allem solcher mit kommunikativen Zielsetzungen) verschoben hat (vgl. u.a. Rösler 2012).
In diesem Artikel werden die Grammatikvermittlung und die kommunikative Praxis in der Zielsprache als zwei gleichermaßen grundlegende Elemente betrachtet, die notwendig sind, um einen möglichst umfassenden Unterricht anzubieten. Als Kern der kommunikativen Praxis wird das Rollenspiel vorgeschlagen. Aufgrund seiner Vielseitigkeit kann dieses unterschiedliche Bedeutungen annehmen und in mehreren Bereichen eingesetzt werden. In Anlehnung an die Definition von Rollenspiel im Duden-Online-Wörterbuch als «spielerisch nachgeahmtes Rollenverhalten»1 wird hier unter didaktischem Rollenspiel eine Interaktion verstanden, die aus einem Dialog zwischen zwei oder mehreren Gesprächspartnern besteht und zunehmend improvisiert wird. Eine der Hauptstärken des didaktischen Rollenspiels besteht darin, dass es sich zwischen einem vollständig improvisierten Dialog und der passiven Wiedergabe eines vorgegebenen Skripts bewegt. Zur Vorbereitung auf das Rollenspiel wird den Lernenden sprachliches Material zur Verfügung gestellt, das auch Redemittel enthält, die für die Durchführung der Interaktion nützlich sind, bei der die Lernenden nicht einem bestimmten Skript folgen müssen, sondern sich frei ausdrücken können, indem sie das Vokabular, die Redewendungen und die grammatischen Strukturen, die sie gelernt haben, als Grundlage verwenden. Bei den spielerisch dargestellten Situationen handelt es sich vor allem um Alltagssituationen, soziale Begegnungen oder Gelegenheiten für berufliche und private Anlässe, die für die Lernenden von Interesse sind. Die Fertigkeiten, die im Mittelpunkt stehen, sind in den meisten Fällen Sprechen und Hören, obwohl teilweise auch Schreib- und Lesefähigkeit geübt werden.
Der Einsatz von Rollenspielen im Unterricht bietet die Möglichkeit, die Schülerinnen und Schüler zu ermutigen, ihr Wissen in die Praxis umzusetzen, indem sie in eine reale Situation versetzt werden, in der sie kommunizieren können.
Die ersten Etappen des didaktischen Rollenspiels
Das Potenzial des Rollenspiels für den Fremdsprachenunterricht wurde vor allem in den 1970er Jahren mit der kommunikativen Wende und der Betonung des Erwerbs kommunikativer Kompetenzen erkannt (Rösler 2012: 114). Interessanterweise gab es aber bereits im Mittelalter Unterrichtsangebote, die das Rollenspiel als didaktisches Mittel einsetzten, damals noch als „Gespräche“ bezeichnet.
Das erste Lehrangebot, das hier als Beispiel für den Einsatz des situativen Dialogs im Fremdsprachenunterricht angeführt wird, ist das Sprachbuch von Georg von Nürnberg. Das Sprachbuch ist als das älteste überlieferte systematische DaF-Lehrwerk zu betrachten. Die älteste Fassung dieser mittelalterlichen Handschrift stammt aus dem Jahr 1423 und wird in der Wiener Nationalbibliothek aufbewahrt (Foschi Albert 2021: 46). Es handelt sich um ein zweisprachiges Lehrbuch (alemannisch/bayerisch-venezianisch), das als Unterrichtswerk für italienische Kaufleute diente.
Das Werk ist nicht systematisch wie eine Grammatik aufgebaut. Es sollte vielmehr die kommunikativen Mittel zur Verfügung stellen, die die Lernenden benötigten, um sie sich in beruflichen Situationen auf Deutsch ausdrücken zu können. Das Sprachbuch besteht aus drei unterschiedlichen, zweisprachigen Materialgruppen: der erste Teil ist ein (deutsch-italienisches) Glossar, der zweite enthält eine Auflistung von Verbformen, der dritte besteht aus kurzen Gesprächen, die im Händlermilieu stattfinden und als didaktisches Munster für die Lernenden gedacht waren. Die Besonderheit der Struktur des Sprachbuchs bestand darin, dass die Wörter des Glossars zum großen Teil in den Gesprächen am Ende des Buchs wieder auftauchen. In dieser Voraussetzung zeigt sich die innere Kohärenz des Buchs und sein didaktischer Wert (Foschi Albert 2021: 47).
Das Sprachbuch ist für den vorliegenden Beitrag von besonderem Interesse, da die Gespräche im dritten Teil des Werkes als ältestes Beispiel für den Einsatz des Rollenspiels als Unterrichtsmittel im Bereich des Deutschen als Fremdsprache gelten können. Die Gesprächsinhalte beziehen sich hauptsächlich auf Verhandlungen im Bereich der frühbürgerlichen Waren (Gewebe, Textilien, Textilfasern wie Baumwolle) und allgemein auf das Leben der Kaufleute im „fondaco“2. In dieser Hinsicht enthalten die Dialoge viele Merkmale der gesprochenen Sprache. Sie gelten als Muster für die Lernenden nicht nur in Bezug auf die sprachliche Kompetenz, sondern auch in Bezug auf Handelsverfahren.
Die Dialoge sind so verfasst, dass in der linken Spalte die Zeilen auf Italienisch (Muttersprache) und in der rechten Spalte die deutsche Version (Zielsprache) stehen. Die deutsche Fassung ist nicht als schriftliche Übersetzung zu verstehen, sondern als Transkription eines tatsächlich stattgefundenen Dialogs oder eines Gesprächs, das plausibel und realistisch erscheint. Nachstehend ein kleiner Auszug aus dem ersten Dialog:
A | Dio te Salue Bartolamio | Got gruß dich bortholme |
B | Omisier vuj sii ben uegnudo | O herr ïr seit got wilchum |
Ele asay chio no(n) ue ho uezudo | Ez ist lang daz ich euch nicht han gesehen | |
Oue sy uui sta tanto ohio no ue ho uezudo | Wo seit ïr alz lang ge wesen daz ich euch nicht haben gesehen | |
A | In qua in la in asai luogi. | Hin vnd her an vil enten. |
Die Dialoge wirken authentisch, weil sie die typische Struktur des Verhandlungsgesprächs respektieren. Sie beginnen mit der Begrüßung und eventuell der Vorstellung, dann folgt ein kurzer Smalltalk (über die Reise oder aktuelle Ereignisse wie Krieg und Pest). Im Mittelpunkt des Gesprächs steht der Verhandlungsprozess (Vorzeigen der Ware, Feilschen um den Preis usw.), gefolgt vom Kaufabschluss (oft mit einem Trunk signalisiert).
Laut Glück ist das Sprachbuch besonders wertvoll, denn es verbindet «den Sprachunterricht mit einer Einführung in den Textilhandel, und zwar sowohl in Bezug auf die Lexik als auch auf die sehr pragmatisch ausgerichteten Dialoge, in denen man sowohl Taktieren und Finassieren als auch Jammern, Fluchen, Komplimentieren beim Verkaufsgespräch, Redewendungen und Sprichwörter lernen kann» (Glück 2002: 427). Das Glossar enthält nicht nur eine Liste der Schlüsselwörter, sondern auch Nominalgruppen, kurze Sätze und Redewendungen, die zu den jeweiligen Hauptthemen passen. In der Verbliste kommen dagegen konjugierte Verben nach Person, Zeitform und Modus vor, die für die Kommunikation im Handelsbereich als am wichtigsten angesehen werden. Nachdem der junge Kaufmann im ersten Teil des Unterrichts den Wortschatz und die grammatischen Strukturen erworben hatte, konnte er die Dialoge verstehen und sie in die Praxis umsetzen.
Die Stärke dieser Unterrichtsmethode ist genau die Einführung von Dialogen in den Lernprozess. Die Dialoge werden nicht gleich zu Beginn, sondern am Ende der Lektion eingeführt. Diese Strukturierung des Sprachbuchs führt zu der Erkenntnis, dass Gesprächsverstehen und eventuell das Rollenspiel nur dann wirksam sind, wenn ihnen eine (wenn damals auch nur annähernde) Vermittlung von Wortschatz und Grammatik vorangestellt wird.
Obwohl das Lehrwerk aus dem 15. Jahrhundert stammt, enthält es zahlreiche innovative didaktische Elemente, insbesondere im Bereich der Kommunikation.
Ein zweiter didaktischer Ansatz, bei dem die Lernenden durch Dialoge zum praktischen Sprachgebrauch angeregt werden, ist die Methode von Maximilian Delphinius Berlitz. Berlitz fasste die grundlegenden Aspekte seiner Methode in einem Lehrbuch mit dem Titel: Erstes Buch für den Unterricht in der Deutschen Sprache zusammen, das 1919 in Berlin veröffentlicht wurde. Zu den Grundprinzipien der Methode gehören die Ablehnung der Grammatik-Übersetzungs-Methode, der natürliche Erstspracherwerb als Vorbild für das Fremdsprachenlernen, sowie die induktive Vermittlung.
Im Mittelpunkt der Berlitz Methode steht das Sprechen, wie das lateinische Motto des Lehrbuchs ausdrückt: «Loqui loquendo discitur» (Berlitz 1919: 3), d.h. man lernt sprechen, indem man spricht. Das Ziel von Berlitz war es, durch die ausschließliche Verwendung der Zielsprache einen Unterricht zu schaffen, der es den Lernenden ermöglicht, die Fremdsprache ohne große theoretische Kenntnisse praktisch anzuwenden. Diese Idee führte zu dem Prinzip der Einsprachigkeit: «von der ersten Stunde an hört und spricht der Schüler nur die Sprache, die er lernen will» (Berlitz 1919: 3), was das bis heute als Grundpfeiler dieser Lehrmethode gilt.
Im Jahr 1920 erschien das Zweite Buch für den Unterricht in der deutschen Sprache. Es galt als Fortsetzung und Vertiefung des Lehrstoffs des ersten Buchs. Das zweite Buch ist ebenfalls in zwei Hauptteile unterteilt: das erste enthält viele Dialoge, das zweite eine Reihe von Anekdoten und Lesestücken. Im ersten Teil sind die Kapitel nach den behandelten grammatischen Themen gegliedert. Gemäß der Berlitz-Methode werden die grammatischen Regeln nicht explizit erklärt, sondern situativ und implizit in Dialogen vermittelt. Zum Beispiel werden im ersten Kapitel als grammatisches Thema einige Tempora des Indikativs durch Gespräche in typischen Situationen vorgestellt. Dazu gehören Situationen wie „im Hotel“, „Auf dem Postamt“ oder „Eine Wohnung mieten“.
Die Dialoge sind ein bis zwei Seiten lang und werden mit Ausnahme der Szenenüberschrift durch keine Anweisungen eingeleitet. In der linken Spalte stehen die Namen der Sprecher, zuerst ausgeschrieben, dann abgekürzt. Als Beispiel kann der folgende Ausschnitt aus dem ersten Dialog „im Hotel“ dienen:
Amberg: Wir haben heute Morgen telegraphiert, um zwei nebeneinanderliegende Zimmer zu bestellen.
Portier: Ganz recht, Herr Amberg aus Frankfurt?
A. Jawohl, und das ist mein Freund, Herr Busch.
P. Wir haben Ihnen Nummer 35 und 36 reserviert, zwei sehr freundliche, ruhige Zimmer mit Aussicht auf den Park.
A. Gut. Wollen Sie, bitte, unser Gepäck gleich hinaufbesorgen lassen.
(Berlitz 1920: 1-2)
Nach jedem Dialog folgt eine Übung, die aus einer Reihe von Fragen besteht. Die Fragen dienen dazu, das Leseverstehen des Dialoginhalts zu überprüfen oder beziehen sich direkt auf die Wortschatzkenntnisse und die sprachlichen Besonderheiten der kommunikativen Situation.
Nach den Angaben von Berlitz in der Anleitung zum Buch sollen die Dialoge nicht (nur) vom Lehrer vorgelesen werden, vielmehr ist Aufgabe des letzteren «die im Buch enthaltenen Gespräche von mehreren Schülern in der Klasse nachahmen zu lassen» (Berlitz 1920: IV). Die Dialogfiguren gelten dann auch als Rollen, die die Lernenden vorspielen sollen, um die Ausdrücke und den Satzausbau besser zu memorisieren. Dieses Verfahren kann als Zielsetzung gesehen werden, das Rollenspiel in den Unterricht einzuordnen, obwohl es nicht als Haupttechnik vorgestellt wird, sondern als ein Mittel für die Vertiefung der Kenntnisse. Die Methode ist grundsätzlich um die Struktur Lesen oder Hören/ Nachahmung konstruiert und die Lernenden werden stets aufgefordert, die Wörter und Sätze zu wiederholen. Die Empfehlung an den Lehrer, die Schüler zum Aufsagen der Dialoge zu ermutigen, ist eigentlich als zusätzlicher Hinweis am Ende des Vorworts aufgeführt.
Diese Haltung des Autors widerspiegelt die Konzeption des Lehrbuchs und zeigt, dass der Schwerpunkt eher auf der Lexik, als auf dem spontanen Sprechen liegt. Dennoch ist anzumerken, dass Dialoge etwa die Hälfte des Buches ausmachen. Daraus lässt sich schließen, dass Berlitz großen Wert auf das dialogische Sprechen legt und dass Gespräche ein sehr erfolgreiches Mittel sind, um sich einer Fremdsprache zu nähern.
Das Rollenspiel in der Gegenwart: die Anwendungsbereiche des Rollenspiels
Dank seinem offenen Format kann das Rollenspiel viele unterschiedliche Bedeutungen annehmen und in verschiedenen Lebens- und Wissensbereichen verwendet werden. Unter den Disziplinen, die das Rollenspiel einsetzen, sind Psychologie, Pädagogik, Spielwissenschaft (Ludologie) zu nennen, wie, in unserem besonderen Fall, die Fremdsprachendidaktik. Ein folgender synthetischer Überblick über die verschiedenen Anwendungsbereiche des Rollenspiels leitet auf den Schwerpunkt der Anwendung im Fremdsprachenunterricht und sein didaktisches Potenzial über.
In dem Bereich Psychologie erscheint das Rollenspiel als: «für therapeutische Zwecke eingesetzte Nachstellung einer meist konfliktgeladenen Situation, bei der die Beteiligten jeweils in einer vorgegebenen sozialen Position, Rolle agieren» (DWDS1).
Das Rollenspiel kann als Simulation der Realität und Vorbereitung auf den Ernstfall im psychotherapeutischen Kontext verwendet werden, sowohl in Bezug auf alltägliche Situationen (z.B. beim Selbstsicherheitstraining, beim Training der sozialen Kompetenz oder bei der Angstbewältigung), als auch in Bezug auf Extremsituationen wie etwa für den Einsatz in militärischen Krisengebieten3.
Das Rollenspiel wird auch als Methode in der Gruppentherapien verwendet, wie z.B. in der Spielvariante „Psychodrama“. Dieser Begriff bezeichnet eine von dem österreichischen Arzt Jacob Levy Moreno (1890-1974) entwickelte Methode der Psychotherapie, bei der psychische und zwischenmenschliche Konflikte in kreativen, theaterähnlichen Szenen dargestellt und ausgetragen werden. Das Rollenspiel ermöglicht es den Teilnehmenden, eine andere Perspektive als die eigene einzunehmen und Empathie und Verständnis für die anderen zu entwickeln. Im „Psychodrama“ werden vor allem Kreativität und Spontaneität gefordert. Die Teilnehmer werden zur Improvisation ermutigt und können durch kreative und spontane Reaktionen auf herausfordernde Situationen neue Lösungen finden und mehr über sich selbst und andere erfahren.
Wesentlich für das Gelingen des Rollenspiels im psychotherapeutischen Bereich allgemein ist die unterstützende Teilnahme aller Gruppenmitglieder und das gemeinsame Bewusstsein, dass das Handeln in den Rollen sanktionsfrei ist.
In der Pädagogik und den Erziehungswissenschaften wird das Rollenspiel als «Nachahmung bestimmten sozialen Rollenverhaltens des täglichen Erlebens im kindlichen Spiel» (DWDS1) beschrieben. Es handelt sich hier um eine Form des kindlichen Spiels, bei der das Kind in einer Gruppe (z.B. beim Räuber-und-Gendarm-Spiel) oder einzeln (z.B. Prinzessin, Indianer) verschiedene soziale Rollen nachahmt. Das Rollenspiel tritt im Alter von 4-7 Jahren auf und nimmt einen wichtigen Platz ein. Im Rollenspiel ahmen die Kinder auch typische Rollen aus dem Alltag nach, z.B. die Beziehung zu Mutter oder Vater. Mit zunehmendem Alter übernehmen die Kinder immer komplexere Rollen, die immer mehr Interaktion erfordern. Im Spiel lernen die Kinder die sozialen Rollen kennen und erwerben schrittweise eine höhere kommunikative Kompetenz.
Als pädagogische Methode wird das Rollenspiel im Bereich des „sozialen Lernens“ eingesetzt. Soziales Lernen ist ein Begriff der kommunikativen Didaktik und der Sozialpädagogik, der handlungsorientiertes und problemlösendes Lernen bezeichnet.
Der Erwerb kommunikativer Kompetenz entspricht in diesem pädagogischen Ansatz dem Ziel der Persönlichkeitsbildung. Das bedeutet, dass es nur durch die Forderung nach Interaktion möglich ist, den Lernenden beizubringen, ihre eigene Identität und soziale Rolle zu finden (Löffler 1979: 9). Das Lernen ist als gemeinsamer Prozess konzipiert, der entsprechend nur wirksam sein kann, wenn er die Kollaboration und Interaktion zwischen den Lernenden unterstützt.
Im Rahmen des sozialen Lernens liegt die Bedeutung des Rollenspiels als didaktisches Mittel darin, die Entwicklung der für das soziale Leben wichtigsten Fähigkeiten zu fördern. Zu diesen Fähigkeiten gehören zum Beispiel die Empathie, d.h. die Fähigkeit, die Perspektive des anderen einzunehmen, sowie Ambiguitätstoleranz als die Fähigkeit, Diskrepanzen zwischen Eigenbedürfnissen und Außenerwartungen auszuhalten und die verbale und nonverbale Kommunikation, die als Instrument zur Konfliktlösung und Entdeckung der eigenen Persönlichkeit gilt.
Das Rollenspiel kann verschiedene Formen annehmen, der typische Ablauf gliedert sich jedoch in drei Phasen: eine Vorbereitungsphase, die eigentliche Spielphase und die Verarbeitungsphase (Löffler 1979: 17). Die letzte Phase ermöglicht eine gemeinsame Reflexion über den Spielverlauf und das Rollenverhalten und hat daher einen hohen Wert für den Gruppenzusammenhalt.
In der Spielwissenschaft4 wird der Begriff „Rollenspiel“ für eine Spielform verwendet, bei der die Spielenden die Rollen von realen Personen, fiktiven Figuren, Tieren oder auch Gegenständen übernehmen. Das Rollenspiel als Unterhaltungsspiel hat seinen Ursprung in den 1970er Jahren und geht auf Kriegsspiele (wargames) zurück, d.h. auf Kriegssimulationen mit Miniaturen oder Spielfiguren. Das Szenario der Konfliktsimulationsspiele änderte sich im Laufe der Zeit allmählich zugunsten eines mittelalterlichen Fantasy-Settings (Longo 2020: 14). Das Hauptmerkmal ludischer Rollenspiele besteht darin, dass die Spieler nicht nur die Spielregeln anwenden (wie bei traditionellen Spielformen), sondern in den kreativen Prozess der Handlung eingebunden sind. Sie sind aufgefordert, zu wählen, wie sie ihre Figuren charakterisieren und Entscheidungen zu treffen, die den Verlauf des Spielabenteuers verändern. Wie bei anderen Rollenspielarten, gibt es die Figur des Spielleiters, der das Spiel und die Geschichte vorantreibt.
Rollenspiele unterteilen sich heute in Pen-&-Paper-Rollenspiele, Live-Rollenspiele und Computer-Rollenspiele. Das Pen-&-Paper-Rollenspiel ist eine Form des Tischspiels, die aus einer Mischung von Gesellschaftsspiel, Erzählung und Improvisationstheater besteht. Für das Spiel werden ein Regelbuch, Würfel, eine Karte und ein Charakterbogen benötigt. Jeder Spieler übernimmt einen Spielcharakter mit bestimmten Eigenschaften, die im Laufe des Abenteuers auf die Probe gestellt werden. Bei dieser Art von Rollenspiel wird das positive oder negative Ergebnis der Aktionen der Charaktere durch die Würfel und die Entscheidungen der Spieler bestimmt. Ziel des Spiels ist es nicht, eine bestimmte Punktzahl zu erreichen und zu gewinnen, sondern gemeinsam ein Abenteuer zu erleben und die Fantasie einzusetzen.
Live-Rollenspiele, oder auf Englisch Live Action Role Playing (mit LARP verkürzt) sind eine Form des Rollenspiels, bei der die Teilnehmer ihre Spielfigur physisch selbst darstellen. Während die Pen-&-Paper-Rollenspiele näher an der Spielwelt sind, sind die LARP eher theatralisch geprägt. Die Spieler haben eine Vorlage, die aus dem Hintergrund, den Zielen und den Eigenschaften ihres eigenen Charakters besteht, das Handeln aber wird vorrangig improvisiert.
Bei den Computer-Rollenspielen wird die Struktur der Pen-&-Paper-Rollenspiele auf Computerspiele übertragen. Der Hauptunterschied zum Pen-&-Paper-Rollenspiel besteht darin, dass die Aufgaben des Spielleiters vom Computer übernommen werden. Anders als bei Tischrollenspielen ist das erforderliche Regelwissen geringer, da der Computer den Großteil der Berechnungen übernimmt (Tresca 2011: 134). Aufgrund der technischen Elemente des Videospiels sind die Kreativität und die Entscheidungsfreiheit der Spielenden beim Computer-Rollenspiel teilweise eingeschränkt. Die strikte Durchsetzung der Regeln durch die Spielesoftware macht die Auflösung der Ereignisse weniger verhandelbar und begründet die Darstellung der Charaktere eher auf quantitative als auf qualitative Elemente (Hitchens, Drachen 2008: 16).
Wie dies auch bei den traditionellen Rollenspielen der Fall war, bleiben die gemeinschaftlichen und sozialen Aspekte des Spiels auch auf der virtuellen Ebene im Mittelpunkt.
Das Rollenspiel im heutigen Fremdsprachenunterricht
Das Rollenspiel im heutigen Fremdsprachenunterricht steht in engem Zusammenhang mit den Konzepten der Handlungsorientierung und des ganzheitlichen Lernens. Handlungsorientierung bezeichnet die Fokussierung auf den Erwerb einer Handlungskompetenz, d.h. die Fähigkeit im Rahmen «realer oder als lebensecht akzeptierbarer Situationen inhaltlich engagiert sowie ziel- und partnerorientiert zu kommunizieren» (Suhrkamp 2010: 104). Rollenspiele regen tatsächlich den praktischen Sprachgebrauch in realitätsnahen Kommunikationssituationen an, in denen das sprachliche Handeln im Mittelpunkt steht, d.h. die Fähigkeit, den anderen zu verstehen und sich verständlich zu machen.
Ganzheitliches Lernen bezieht sich auf eine Unterrichtsmethode, die das Konzept des Lernens als einen ganzheitlichen Prozess betont, der konkrete Erfahrungen mit allen Sinnen einschließt. Dieser Aspekt konkretisiert sich im Rollenspiel durch den Einsatz von Körpersprache und Mimik, die eine reale und persönliche Interaktion ermöglichen.
Rollenspiele werden ebenfalls zu den Lernspielen gezählt. Aufgrund der unterschiedlichen Umsetzung des Rollenspiels können sie Elemente enthalten, die eher dem Spiel oder dem darstellenden Spiel zuzuordnen sind. Rollenspiele, die mehr theatertypische Techniken anwenden, können die Formen von Sketch, Theaterspiel oder dramatischen Dialogen übernehmen. In diesem Fall werden neben der ästhetischen Wahrnehmung der Fremdsprache auch bestimmte Elemente wie Aussprache und Intonation eingeübt. Die Wiedergabe einer vorgegebenen Rolle und die Wiederholung von Texten erleichtert das Einprägen des Wortschatzes sowie die Automatisierung von Redewendungen und grammatischen Strukturen.
Rollenspiele, bei denen die Interaktion im Vordergrund steht, fördern den kreativen und spontanen Sprachgebrauch und konzentrieren sich auf den kommunikativen Aspekt (Löffler 1979: 36).
Nach Löffler hat der Einsatz von Spielen im Fremdsprachenunterricht eine Reihe von Zielvorstellungen, zu denen die Wiederholung und Festigung von Sprachmaterial, die Auflockerung des Unterrichts, die Motivationssteigerung und die Kooperationsforderung gehören. Beim Rollenspiel selbst liegt das übergeordnete Lernziel im Erwerb von zielsprachlicher Kommunikationsfähigkeit. Dieser Erwerb wird in einer Reihe von Teilzielen präzisiert, die sich insbesondere auf grammatikalische, lexikalisch-idiomatische und auch phonologisch-prosodische Elemente beziehen.
Bei jedem Rollenspiel gibt es die Figur des Leiters, der den Zweck und den Inhalt des Rollenspiels bestimmt und dessen Verlauf lenkt. Die Rolle des Spielleiters wird beim didaktischen Rollenspiel von der Lehrperson übernommen. Die Lehrkraft wird als Impulsgeber begriffen und soll das Rollenspiel kompetent leiten, damit es für die Lernenden zu einer pädagogisch bereichernden Erfahrung wird.
Wenn das Rollenspiel nur als Optimierung der sprachlichen Leistung eingeführt wird, besteht außerdem die Gefahr einer „Intellektualisierung“ des Spiels (Löffler 1979: 24). Ein zu strenger Ansatz in Bezug auf die formale Korrektheit von Ausdrücken kann dazu führen, dass die Teilnehmer das Rollenspiel eher als Kompilationsübung denn als Anregung zur Kommunikation erleben. Dies kann zum Beispiel passieren, wenn ein Schüler aus Angst, Fehler zu machen, zu Hause einen Text konstruiert und ihn während des Spiels auswendig aufsagt. Auf diese Weise wird der kommunikative Zweck des Rollenspiels nicht erfüllt, da der Lernende die Sprache auf kreative und interaktive Weise verwenden soll.
Schließlich ist es wichtig, gemeinsam mit den Lernenden über die verwendeten grammatischen Strukturen, die behandelten Themen, den Wortschatz und die verwendeten Ausdrücke nachzudenken. Auf diese Weise kann den Schülerinnen und Schülern die besondere Funktion des Rollenspiels und seine Nützlichkeit bewusst gemacht werden.
Schlussfolgerung
In der Zeit der kommunikativen Orientierung (1970er-80er Jahre) wurde dem Spielen im Fremdsprachenunterricht große Aufmerksamkeit geschenkt. Vor allem «hatten die sogenannte Rollenspiele Hochkonjunktur, bei denen die Lernenden mit mehr oder weniger ausführlichen Beschreibungen des Kontextes und der Rollen in die Lage versetzt werden sollten, situationsangemessen kommunizieren zu können» (Rösler 2012:115).
Während das Rollenspiel bis zu Beginn des neuen Jahrtausends auf großes Interesse stieß, hat seine Bedeutung als didaktisches Mittel bis heute allmählich abgenommen.
Betrachtet man die Häufigkeit der Verwendung des Begriffs „Rollenspiel“ in einem korpusbasierten Analyseinstrument wie dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS), so zeigt sich, dass er zunehmend weniger in der deutschsprachigen Kulturlandschaft vertreten ist5.
Ziel dieses Artikels war es daher, dieser Tendenz entgegenzuwirken und das Konzept des Rollenspiels für Bildungszwecke neu zu gewichten, sein Potenzial aufzuzeigen. Das am Anfang vorgestellte historische Lehrangebot mit seinen teilweise improvisierten situativen Dialogen, die bereits den Kern des Rollenspielkonzepts bildeten, zeigt die direkte Linie zum heutigen Unterricht auf. Die didaktische Wirksamkeit der beiden Vorläufer war recht hoch. Das Sprachbuch des Georg von Nürnberg stellte im späten Mittelalter eines der wichtigsten Hilfsmittel für italienische Kaufleute dar, um Deutsch zu lernen. Die Berlitz-Methode hingegen hat sich vor allem seit den 1960er Jahren schnell verbreitet und ist noch heute eine etablierte Methode zum Erlernen von Fremdsprachen, insbesondere für Intensivkurse1.
Der Einsatz des Rollenspiels im heutigen Fremdsprachenunterricht bietet zahlreiche Vorteile: eine Anregung für die Sprech- und Hörpraxis, eine Ermutigung zu einem kreativen und spontanen Sprachgebrauch, vor allem aber auch die Möglichkeit, grammatische Strukturen in einen konkreten kommunikativen Kontext einzubauen und in die Praxis umzusetzen. Dazu gesellen sich übergreifende Sozialkompetenzen wie Team- und Empathiefähigkeit. Eine Neubewertung und größere Verbreitung von Rollenspielen für didaktische Zwecke im Fremdsprachenunterricht wäre daher von großem Nutzen.
Literaturverzeichnis
Begoll Alex (2014), Vorteile und Grenzen der Rollenspiele als Unterrichtsmethode. Unterrichtsentwurf zur “Windenergie”, München, GRIN Verlag.
Berlitz Maximilian Delphinius (1919), Erstes Buch für den Unterricht in der deutschen Sprache, Berlin, Wolff.
— (1920), Zweites Buch für den Unterricht in der deutschen Sprache, Berlin, Cronbach.
Foschi Albert Marina (2021),«Deutsche Gesprächskultur diachronisch». In: Giessen L. (Hrsg.), Text-, Diskurs- und Kommunikationsforschung, Landau, Verlag Empirische Pädagogik, p. 41-60.
Glück Helmut (2002), Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit, Berlin-New York, de Gruyter.
Hitchens Michael and Drachen Anders (2008). The Many faces of role-playing games, «International Journal of Role-Playing», 1, p. 3-21.
Kochan Barbara (1974), Rollenspiel als Methode sprachlichen und sozialen Lernens, Kronberg, Scriptor.
Longo Mauro (2020), Giochi di ruolo. Come inventare, realizzare e proporre giochi di interpretazione, di avventura e di narrazione, Roma, Dino Audino Editore.
Löffler Renate (1979), Spiele im Englischunterricht: Vom lehrergelenkten Lernspiel zum schülerorientierten Rollenspiel, München, Urban & Schwarzenberg.
Rösler Dietmar (2012), Deutsch als Fremdsprache. Eine Einführung, Stuttgart, Metzler.
Suhrkamp Carola (2010), Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik, Stuttgart-Weimar, Metzler.
Tresca Michael (2011), The evolution of fantasy role-playing games, Jefferson, North Carolina, McFarland & Co.
Internetquellen – zuletzt abgerufen am 02/09/2023
Duden Wörterbuch, url: <https://www.duden.de/woerterbuch>.
DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, url: <https://www.dwds.de>.
Lexikon der Psychologie, url: <https://www.spektrum.de/alias/lexikon/lexikon-der-psychologie/110571>.
Berlitz Sprachschule, url: <https://www.berlitz.com/de-de>.
Institut für Ludologie, url: <https://www.ludologie.de/institut/was-ist-ludologie/>.
Note
- <https://www.duden.de/rechtschreibung/Rollenspiel>.
- Seit dem 13. Jahrhundert war “fondaco dei tedeschi“ oder „Deutsches Haus” eine Niederlassung deutscher Händler in Venedig (Foschi Albert 2021: 47).
- Lexikon der Psychologie:<https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/rollenspiel/13148>.
- Für diesen Teilbereich wird gegenwärtig neben dem Fachterminus Ludologie auch seine deutsche Übersetzung Spielwissenschaft verwendet (vgl. website <https://www.ludologie.de/institut/was-ist-ludologie/>).
- Quelle dazu: DWDS Lemma „Rollenspiel“, Verlaufskurve.