Leichte Sprache und Standardsprache im Vergleich von Textpaaren

Leichte Sprache als linguistisches und gesellschaftliches Phänomen

Wenn Menschen mit Lern- und Leseschwierigkeiten einem schriftlichen Text gegenüberstehen, kann dies unter Umständen bestimmte Schwierigkeiten mit sich führen. Gerade in solchen oder anderen Situationen hilft die Leichte Sprache. Die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen im Translation & Cognition (TRA&CO) Center der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Anne-Kathrin Gros, Silke Gutermuth und Katharina Oster definieren dieses relativ junge, aber zunehmend bedeutende sprachliche Konzept folgendermaßen:

Bei der Leichten Sprache handelt es sich um eine verständlichkeitsoptimierte Reduktionsvarietät des Deutschen, deren systematische Reduktion in den Bereichen Wortschatz, Satzbau und Weltwissen Rezipienten mit Kommunikationsbarrieren den Zugriff auf Inhalte standard- und fachsprachlicher Texte ermöglicht, die sonst zum größten Teil unzugänglich für sie blieben (Gros et al. 2021: 8).

Leichte Sprache als Konstrukt basiert konzeptuell auf erhöhter Verständlichkeit: Ihre erste Zielsetzung besteht darin, den Inhalt eines Textes verständlich zu machen, insbesondere für Menschen mit Leseeinschränkungen. Komplexe Texte aus unterschiedlichen fachsprachlichen Bereichen (Politik, Medizin, Verwaltung, Justiz usw.) werden für eine schneller zugängliche Rezeption durch den Schlüssel der sprachlichen Vereinfachung vermittelt. Die Leichte Sprache ist nicht nur ein sprachliches Konzept, sondern auch ein soziales und gesellschaftliches Phänomen, denn sie ermöglicht die Einbeziehung und Teilhabe von Menschen, die zuvor von der Gesellschaft und vom politischen Leben teilweise ausgeschlossen waren, weil sie Schwierigkeiten vor allem beim Lesen und Verstehen von Standardtexten hatten.

Die Leichte Sprache dient vor allem der Überwindung von Kommunikationsbarrieren unterschiedlichster Art. Dazu gehören folgende Hindernisse (Gros et al. 2021: 9; Schubert 2016; Rink 2020): Kognitions-, Sprach-, Kultur-, Fach(sprachen)-, Medien-, Motorik-, Wahrnehmungsbarrieren. Sie alle können Begrenzungen für die Textrezeption darstellen. In dieser Vermittlungs- und Brückenfunktion gilt Leichte Sprache als ein Instrument gleichberechtigter informationeller und kommunikativer Teilhabe, denn ein «Leichte-Sprache-Text» (Bredel & Maaß 2016: 9) errichtet eine Brücke zwischen den Rezipienten/-innen und dem schwierigen Text (Gros et al. 2021: 10), der aus dem Bereich der Fachsprachen und weiteren Varietäten, aber nicht weniger auch aus demjenigen der Alltagssprache und Standardsprache stammen kann. Durch das Umformulieren von unterschiedlichsten Texten und Textsorten in Leichte Sprache sollen alle Sprachteilhaber inkludiert werden und aktiv am Gesellschaftsleben teilnehmen können. Deshalb bildet die entsprechende Umsetzung eine gesellschaftlich wichtige Sprachvarietät, die weiterhin als innovativ gilt, dabei aber ständig zunimmt und stets auch qualitativ weiterentwickelt werden muss.

Die Leichte Sprache ist eine wichtige Brücke für die Alltagsbewältigung sowohl für Menschen mit Lern- und Leseschwierigkeiten (wie Legasthenie, Aphasie, Demenz) als auch für Menschen, die in ihrem Alltagsleben wenig Zugang zu Fach- und Wissenschaftstexten haben. Zu Letzteren gehören nicht nur Migranten/-innen, die ihre Zielsprache noch ausbauen möchten, vielmehr durchaus auch Muttersprachler/-innen. Die Zielgruppe von Leichter Sprache ist damit sehr heterogen. Nach Bredel und Maaß (2016: 29) können die Adressaten/-innen der Leichten Sprache in drei Gruppen aufgeteilt werden: die primären Adressaten, die sekundären Adressaten und die Mittler/-innen. Zur Gruppe der primären Adressaten gehören diejenigen, die eine Leseeinschränkung haben: Personen mit kognitiver Beeinträchtigung, mit Lernschwierigkeiten, mit Kommunikationseinschränkungen, mit Demenz, Legasthenie, Aphasie, mit Gehörlosigkeit; funktionale Analphabeten/-innen. Die sekundären Adressaten sind Personen, die von diesen Beeinträchtigungen nicht betroffen sind, aber aus weiteren Gründen, unter denen auch der schwächere Bildungshintergrund zu nennen ist, den Ausgangstext zu schwierig finden und in die Varietät der Leichten Sprache wechseln, falls entsprechende Texte vorhanden sind. Die Mittlerfunktion üben Experten/-innen in bestimmten Berufsfeldern (Medizin, Verwaltung, Justiz) aus, die in einer kommunikativen Situation eine Beziehung mit einem primären Adressaten haben (Bredel & Maaß 2016: 42).

Leichte Sprache sollte nicht als ein Stigma betrachtet werden, sondern als ein wirksames Mittel der Kommunikation. Sprache kann ein Hindernis in der alltäglichen Kommunikation darstellen, wenn sie unnötig kompliziert ist: Man denke nur an Unterlagen im Rahmen der Verwaltung, der Medizin und der Justiz, geschrieben mit langen Sätzen und komplizierter Syntax, die selbst für Muttersprachler schwierig sind. Textsortenexemplare aus diesen und weiteren Bereichen werden durch Leichte Sprache verständlicher und zugänglicher gemacht. Daher schlage ich vor, dieses besondere Phänomen nicht negativierend als Reduktionsvarietät, sondern neutral als Sprachvarietät zu bezeichnen.

Entstehung und Verbreitung der Leichten Sprache

Leichte Sprache als Konzept erscheint zwar gegenwärtig in Deutschland als zunehmend verbreitet, ist aber keine deutsche Erfindung. Sie stammt vielmehr aus den USA1, wo aus den ersten Bemühungen um Chancengleichheit für Personen mit Lernschwierigkeiten oder kognitiven Einschränkungen in den 1960er Jahren die 1974 in Oregon gegründete Organisation People First entstand, welche verständliche Texte, geschrieben in Plain English, forderte (Bredel & Maaß 2016: 13).

In den neunziger Jahren kam diese Idee nach Deutschland und 2001 wurde der Verein Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland, eine Selbstvertretergruppe von und für Menschen mit Lernschwierigkeiten, gegründet2. 2008 veröffentlichte Mensch zuerst ein Wörterbuch zur Leichten Sprache. In Deutschland wurden außerdem rechtliche Grundlagen für die Leichte Sprache im Jahr 1994 festgelegt, indem ein wichtiger Zusatz in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland kam: «Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden»3. Durch diesen Zusatz wurde die Anwendung von Leichter Sprache, die zur Überwindung von Kommunikationsbarrieren dient, legitimiert (Gros et al. 2021: 13).

Auf europäischer Ebene entwickelte 1998 Inclusion Europe (früher Europäische Vereinigung der ILSMH, d.h. International League of Societies for Persons with Mental Handicaps) das erste Regelwerk zur Leichten Sprache, gerichtet an Menschen mit kognitiven Schwierigkeiten (Edler 2014: 2).

Seit 2006 entstand in Deutschland das Netzwerk Leichte Sprache (ab hier Netzwerk), ein Verein, in dem Sozialarbeiter/-innen und Menschen mit Lernschwierigkeiten als Textprüfer zusammenarbeiten, um einen Text in Leichter Sprache zu verfassen. Nur die letzteren können feststellen, ob ein Text verständlich ist. Das Netzwerk hat das Konzept der Leichten Sprache verbreitet, und zwar bis zu dem Punkt, dass Leichte Sprache in der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung 2.0 von 2011 und im Behindertengleichstellungsgesetz von 2016 fixiert wurde (Bredel & Maaß 2016: 13-14).

Im Jahr 2009 veröffentlichte das Netzwerk ein Regelwerk für Leichte Sprache, das auf seiner offiziellen Website (<https://www.leichte-sprache.org/>) aufgerufen werden kann. Wenn ein Text mit den Leichte-Sprache-Regeln konform ist, wird er durch ein Prüfsiegel „Leichte Sprache – wissenschaftlich geprüft“ zertifiziert:

Abb. 2: Prüfsiegel „Leichte Sprache – wissenschaftlich geprüft“. Prüfsiegel „Leichte Sprache – wissenschaftlich geprüft“ der Forschungsstelle Universität Hildesheim: <https://www.uni-hildesheim.de/leichtesprache/forschung-und-projekte/pruefsiegel/>.

Ein Text gilt als ein Leichte-Sprache-Text, wenn er diese Regeln, bzw. diese sprachlichen Eigenschaften aufweist und von Menschen mit Lern- und Leseschwierigkeiten bei der Textprüfung verstanden wird. Um Leichte-Sprache-Texte zu kennzeichnen, hat Inclusion Europe ein europäisches Logo geschaffen:

Abb. 3: Europäisches Logo für Leichtes Lesen von Inclusion Europe.
Europäisches Logo für Leichtes Lesen von Inclusion Europe: <https://www.inclusion-europe.eu/easy-to-read/>.

Leichte Sprache gewinnt eine Partizipationsfunktion (Bredel & Maaß 2016: 10): Ziel ist es, den Inhalt eines Textes verständlich zu machen, damit die gesellschaftliche Teilhabe und die gleichberechtigte Partizipation aller Menschen ermöglicht werden.

Das Äquivalenz für Leichte Sprache in Italien

Durch die Anforderungen der Leichten Sprache weisen ihre Texte auf struktureller Ebene ein bestimmtes Layout auf und sind durch eine gut lesbare Schriftart gekennzeichnet. Auf sprachlicher Ebene werden kurze Sätze, leicht verständliche Wörter, viele Erklärungen bevorzugt. Die textpragmatische Ebene enthält u.a. die direkte Anrede für einen höheren Einbezug der Rezipienten.

Texte in Leichter Sprache unterscheiden sich von Standardtexten durch Reduktionen (Strategie der Beschränkung) und Additionen (Strategie der Erweiterung). Reduktion und Additionen dienen dazu, das Verstehen auf Konzept-, Wort-, Satz-, Textebene (Bredel & Maaß 2016: 154-155) zu erhöhen. Die Reduktion der grammatischen Mittel (der Verzicht auf Pronomen, auf Fach- und Fremdwörter, die Beschränkung bei den Zeitformen und Satzarten), die Weglassung von zusätzlichen Informationen führen einerseits zu einer reinen Einzelsatzstruktur der Leichte-Sprache-Texte. Andererseits werden Wörtererklärungen, Paraphrasierungen, Bilder, Beispiele als Additionsverfahren (Bredel & Maaß 2016: 155-157) betrachtet, weshalb der Zieltext in Leichter Sprache normalerweise länger als der Ausgangstext ist.

Für Gros et al. (2021: 8) handelt es sich bei Leichte-Sprache-Texten um «[…] eine systematische Reduktion […]», die in den Bereichen Wortschatz durch die Vermeidung von Fachwörtern, Fremdwörtern, kohäsiven Mitteln (wie Synonymen, Hyperonymen, Hyponymen, Pronomen), Metaphern, Redewendungen erfolgt, begleitet im Bereich Satzbau durch den Verzicht auf komplexe Mittelfelder.

Komplexe Texte aus unterschiedlichen fachsprachlichen Bereichen werden für eine bessere Rezeption in Leichte Sprache übertragen. Als Resultat werden Texte verfasst, die als «Übertragungen»4 bezeichnet werden können. Unter dem lexikalischen Eintrag „übertragen“ im Duden Onlinewörterbuch5 findet man: «Einen [literarischen] Text schriftlich so übersetzen, dass er auch in der Übersetzung eine gültige sprachliche Gestalt hat». Oft werden die Begriffe „Übertragung“ und „Übersetzung“ als Synonyme verwendet, wobei aber ein wesentlicher Unterschied besteht. Koller (2011: 9) versteht unter dem Begriff „Übersetzung“ folgendes:

Das Resultat einer sprachlich-textuellen Operation, die von einem AS-Text [ausgangssprachlichen Text] zu einem ZS-Text [zielsprachlichen Text] führt, wobei zwischen ZS-Text und AS-Text eine Übersetzungs- (oder Äquivalenz-) Relation hergestellt wird.

Bei Leichte-Sprache-Texten handelt es sich nicht um Übersetzungen, da weder in eine andere Sprache übersetzt wird noch eine lückenfreie Äquivalenz zwischen dem Ausgangstext und dem Zieltext aufgebaut wird (Nüssli 2018: 25). Aus diesen Gründen scheint der Begriff „Übertragung“ für diese Varietät am besten geeignet.

Wie eingangs dargestellt, erlebt die Leichte Sprache heute eine zunehmende Erfolgsgeschichte, wobei in erster Linie gesellschaftlich relevante Informationen über Politik, Verwaltung, Justiz und Medizin vermittelt werden. Mein Blick war bisher auf Deutschland gerichtet, da ich im folgenden empirischen Teil deutschsprachige Texte betrachten werde. Zuvor aber soll vermerkt werden, dass auch in Italien eine ähnliche Tendenz festzustellen ist, die in der sogenannten riscrittura vorliegt.

Schon im März 1958 wurde in Rom die Organisation Anffas Onlus von einer Gruppe von Eltern von Kindern mit kognitiven Einschränkungen gegründet. Die Arbeit von Anffas blieb in den letzten 60 Jahren konstant: Sie umfasst Bemühungen um die Anerkennung der Rechte von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und ihrer Familien und wird dabei eingerahmt von öffentlichen Veranstaltungen zum Zweck der Visibilität und von Unterschriftensammlungen für ihre Zielsetzungen, darunter auch für Gesetzesvorschläge. Anffas nahm zusammen mit Inclusion Europe an dem Pathways 2-Projekt teil, das am 31. Oktober 2013 endete. Dadurch hat Anffas vielen Menschen die leicht lesbare italienische Sprache und das lebenslange Lernen nahegebracht6.

Die Zielsetzungen von Anfass sind denjenigen von Netzwerk sehr ähnlich: Es sollen vor allem Texte aus dem Bereich der Fachsprachen, der Jurisprudenz und Verwaltung vermittelt werden, die für eine gesellschaftliche Inklusion besonders wichtig sind. Die Rechtssprache des Italienischen, zusammen mit der Fachkommunikation der Bürokratie und der Verwaltung, hat – wie in allen Sprachkulturen – sämtliche Zugehörige zur Gesellschaft als potenzielle Adressaten. Dessen ungeachtet weisen gerade Texte aus diesen wichtigen Bereichen einen besonders komplexen Stil auf, der das Textverständnis behindern kann (Palermo 2015: 215). Nominalisierung, Deagentivierung, unpersönliche Ausdrücke, die in der wissenschaftlichen Kommunikation der Eindeutigkeit und der Sachlichkeit dienen, nehmen in der Fachsprache der Bürokratie und in der Rechtssprache oft den Charakter einer unnahbaren Abstraktionsebene an. Aus diesem Grund wird die Fachsprache der Bürokratie und der Verwaltung von Italo Calvino in einem Artikel in der Tageszeitung Il giorno im Jahr 1965 als «antilingua» beschrieben (Palermo 2015: 215). Diese Angelegenheit hat zum Nachdenken über das Umschreiben bürokratischer Texte angeregt und zur Erschaffung der praktischen Leitlinien für die riscrittura geführt, die Ähnlichkeiten mit denen der Leichten Sprache finden.

Die Forderungen auf Vereinfachung der Sprache der Verwaltung und der Bürokratie wurden ab 90er Jahren angenommen und führten zum Codice di stile delle comunicazioni scritte ad uso delle amministrazioni pubbliche, der vom damaligen Minister für den öffentlichen Dienst Sabino Cassese gefordert und 1994 veröffentlicht wurde (Palermo 2015: 216). Dieser Band enthält praktische Leitlinien und Unterlagen unterschiedlicher Art (Bekanntmachungen, Formulare, Rundschreiben usw.) mit den entsprechenden Umschreibungsbeispielen, die im Namen der Vereinfachung und Zugänglichkeit des Textes verfasst wurden (Palermo 2015: 216). Il Codice di stile stellt einen Versuch dar, die allgemeinen Grundregeln zu definieren, die von denjenigen befolgt werden sollten, die in der Verwaltung und im bürokratischen Umfeld arbeiten. Ziel ist es nicht, zum guten Stil zu führen, sondern Unterlagen zu verfassen, die für alle verständlich, transparent und zugänglich sind7, genau wie die Leichte Sprache. Um das zu erreichen, wird der Ausgangstext sprachlich und strukturell vereinfacht.

Zu den oben erwähnten Leitlinien des Umschreibens gehören die folgenden Strategien: Eine logische Reihenfolge bei der Informationsverteilung wird bevorzugt; die primären und sekundären Informationen werden durch sprachliche und grafisch-typografische Mittel hervorgehoben; auf der lexikalischen Ebene werden Wörter verwendet, die dem Grundwortschatz angehören, folglich werden archaische, veraltete und damit kaum verständliche Begriffe vermieden; Fachwörter können verbleiben, werden in diesem Fall aber durch Paraphrasierung erklärt. Die Syntaxebene bevorzugt kurze Sätze (nicht länger als 20-25 Wörter) und spärlich verwendete Nebensätze, was durch koordinierende Konjunktionen erreicht werden kann8. Anstelle von Nominalisierungen und komplexen nominalen Blockbildungen wird ein verbaler Stil bevorzugt; das Passiv und unpersönliche Formen werden vermieden. Auch die riscrittura, wie die Leichte Sprache, ist durch eine bestimmte visuelle Gestaltung gekennzeichnet: Der Fließtext wird in Kapitel, Absätze und Unterabsätze gegliedert; die gewählte Schriftart sollte eine hohe Lesbarkeit aufweisen; es bedeutet, dass serifenlose Schriftarten empfohlen werden; außerdem kommen Aufzählungszeichen und nummerierte Listen hinzu, um das Textverständnis zu erhöhen9.

Das Umschreiben von Texten aus den verwaltungsmäßigen und bürokratischen Bereichen ist nicht nur ein sprachliches, sondern auch ein ethisches und zivilgesellschaftliches Problem: Tatsächlich gewinnt die riscrittura, genau wie die Leichte Sprache in Deutschland, eine Partizipations- und eine Brückenfunktion, weil den Inhalt eines Fachtextes verständlich und zugänglich gemacht wird, damit die Einbeziehung und die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen ermöglicht werden.

Eine empirische Analyse von zwei ausgewählten Textsorten in Leichter Sprache

Nach dem vergleichenden Blick auf die italienische riscrittura gilt nun mein Augenmerk wieder den deutschsprachigen Texten. In der Bachelorarbeit, die diesem Artikel zugrunde liegt, habe ich mich mit einem kleinen, aber repräsentativen Korpus befasst. Daraus treffe ich die Auswahl von zwei Textsorten, und zwar dem Behördenbrief aus dem Bereich der Alltagstexte, und dem Märchen, das den literarischen Gattungen angehört. Zwei Textpaare werden betrachtet, indem jeweils das Exemplar in Standardsprache (als Ausgangstext) und der entsprechende Leichte-Sprache-Zieltext analysiert werden. Die linguistische Analyse, die hier ausgeführt wird, fokussiert auf die sprachlich-strukturelle Ebene (Lexik, Syntax und Textstruktur), um die Unterschiede zwischen dem Text in Standardsprache und dem entsprechenden Leichte-Sprache-Text herauszuarbeiten. Die linguistische Textanalyse wird anhand der folgenden beiden Textpaare ausgeführt10:

A.1 Behördenbrief in Standardsprache

A.2 Behördenbrief in Leichter Sprache

L.1 Das Grimm’sche Märchen Frau Holle in Standardsprache

L.2 Die Märchenwiedergabe in Leichter Sprache.

Abb. 4: A.1 Behördenbrief in Standardsprache

Abb. 5: A.2 Behördenbrief in Leichter Sprache
Abb. 6: L.1 Das Grimm’sche Märchen Frau Holle in Standardsprache, Incipit
Abb. 7: L.2 Die Märchenwiedergabe in Leichter Sprache, Incipit

Da bestimmte sprachliche Entscheidungen getroffen werden, um Leichte-Sprache-Texte zu verfassen, werden nun die Hauptmerkmale der Leichten Sprache, die auf den lexikalischen, syntaktischen, strukturellen Ebenen erkennbar sind, dargestellt.

In Bezug auf die Lexik ist zu beobachten, dass als schwierig betrachtete Wörter11 und Fachwörter, die in der Standardsprache vorkommen, in Leichter Sprache bevorzugt vermieden und durch einfache und kurze Wörter ersetzt werden sollen. Ein Beispiel: Statt der Verwendung des Fachwortes des Verwaltungsbereichs Gebühr in A.1 in dem Satz «Die Gebühr wurde bereits bei der Antragstellung entrichtet», wird der gleiche Informationsgehalt in A.2 durch das Verb bezahlen und das einfachere und zugängliche Wort Geld übertragen «Den Ausweis haben Sie schon bezahlt. Sie brauchen für den Ausweis kein Geld mehr mitbringen»12.

Um das Verständnis und die Textrezeption zu erleichtern, werden Komposita als komplexe Wörter durch Mediopunkt oder Bindestrich segmentiert, die jeweils als «Hilfsmittel zur Leseerleichterung» (Rüber 2021: 48) gelten. Auf diese Weise werden Komposita visuell sofort erkennbar. In A.2 und L.2 wird der Mediopunkt verwendet, wie z.B. Identifikations·nummer, Spinn·rad.

Ein weiteres Wortbildungsverfahren neben der Komposition ist die Kurzwortbildung, mit der man sich auf die Bildung eines Wortes durch Kürzung einer längeren Vollform bezieht. Kurzwörter fungieren hauptsächlich als ökonomische Varianten ihrer Vollformen, sie haben ein Genus und werden flektiert (Duden 20057: 741). Um Kurzwörter zu verstehen, muss man die Bedeutung der jeweiligen Vollform kennen oder das Kurzwort als selbstständige lexikalische Einheit gelernt haben (Duden 20057: 742). Zu Gunsten der hohen Verständlichkeit werden Kurzwörter in Leichte-Sprache-Texten nur verwendet, wenn sie weit verbreitet und daher bekannt sind. Andernfalls wird empfohlen, sie in den entsprechenden Vollformen zu schreiben (Netzwerk 2009: 7). In A.2 kommt ein Kurzwort vor, PIN, das durch die entsprechende Vollform erklärt wird, und zunächst wird ein Beispiel hinzugefügt, um das Kurzwort zu verdeutlichen:

PIN bedeutet

persönliche Identifikations·nummer.

Eine PIN ist eine Geheim·zahl.

Zum Beispiel:

•1234

Was die Lexik im Bereich der Kohäsion betrifft, stellt die Bevorzugung von identischen Wiederholungen derselben Wörter für dieselben Dinge (Netzwerk 2009: 5) einen wichtigen Aspekt dar. Es bedeutet, dass lexikalische Elemente wie Synonyme, Hyponyme, Hyperonyme, partielle Wiederaufnahmen durch Wortbildungsbestandteile eines Kompositums, Ellipsen und Pronomen13 möglichst vermieden werden sollen. Somit fallen diese von der Stilistik bevorzugten kohäsiven Phänomene, die in der Standardsprache systematisch eingesetzt werden, damit das «Variationsgebot» (Eroms 2008: 24) erfüllt und Textökonomie erzielt wird, meist weg. Um den Leser mit Lern- und Leseschwierigkeiten nicht zu destabilisieren, der sonst nicht in der Lage wäre, die Referenten dieser Wörter zu identifizieren, werden hier hauptsächlich identische Wiederholungen verwendet. Beispiele davon sind die folgenden: Brief, Ausweis (A.2); Frau, Brunnen (L.2).

Besonders interessant sind die Wiederaufnahmen und die Pronominalisierungen in dem Märchen. Einerseits werden Pronomen und Proformen im Standardtext entweder anaphorisch (rückweisend) oder kataphorisch (vorausweisend) verwendet, um die identische Wiederholung von Wörtern zu vermeiden und gleichzeitig Textökonomie zu erzielen (Hepp & Malloggi 2020: 23-24). Dieselbe Funktion wird auch durch Ellipsen erlangt. Andererseits werden Pronomen und Proformen in der Märchenwiedergabe möglichst vermieden, weil sie insbesondere für primäre Adressaten problematisch sein können, da Pronomen und Proformen an sich bedeutungsleer und referenziell nicht eindeutig sind. Die wichtigsten Unterschiede in der Pronominalisierungskette in diesem Textpaar stellen sich folgendermaßen dar: Die erste Hauptfigur wird durch den unbestimmten Artikel eingeführt, sowohl in der Version der Standardsprache (Eine Witwe) als auch in derjenigen der Leichten Sprache (Eine Frau), was den Beginn einer unmarkierten neutralen Referenzkette bezeichnet (Thurmair 2005: 81), wie sie insbesondere bei Märchen prototypisch der Fall ist. In L.1 wird die Vollform Witwe zuerst durch das Personalpronomen der dritten Person Singular sie und dann durch das Possessivpronomen ihre rückweisend wiederaufgenommen. Alle Wiederaufnahmen in der Kette referieren auf dieselbe Person, die in der fiktiven Welt existiert. Dieses zuerst auftretende Nomen in der Pronominalisierungskette ist der Referenzträger, d.h. Witwe. Im Laufe des Märchens (L.1) wird dann das Wort Witwe durch kontextuelle Synonyme (Mutter, Stiefmutter) wiederaufgenommen. Dagegen kann man im Incipit des Leichte-Sprache-Märchens (L.2) feststellen, dass der erste Absatz als eine Einführung betrachtet werden kann, in der erklärt wird, was ein Märchen ist. Erst der zweite Absatz bildet deswegen das eigentliche Incipit, in dem das Wort Frau nicht wiederholt wird, sondern die wörtlichen Wiederholungen des Wortes Tochter auftreten, die bei gleichem Namen (Marie) zwei unterschiedliche Referenten haben, einerseits die schöne und fleißige Tochter, andererseits die hässliche und faule Tochter.

Nehmen wir ein weiteres Beispiel, um die Verwendung von Pronomen und Ellipsen zu vergleichen. Ein Satzgefüge wie das folgende aus L.1 wäre für Menschen mit Lern- und Leseschwierigkeiten schwer zu verstehen, weil sie nicht unterscheiden könnten, ob diese Pronomen sich auf Frau Holle oder auf die faule Tochter beziehen, da beide im Genus Femininum sind:

Am ersten Tag tat sie sich Gewalt an, war fleißig und folgte der Frau Holle, wenn sie ihr etwas sagte, denn sie dachte an das viele Gold, das sie ihr schenken würde; am zweiten Tag aber fing sie schon an zu faulenzen, am dritten noch mehr, da wollte sie morgens gar nicht aufstehen […]. (Fettdruck von mir)

Um Ambiguitäten dieser Art in L.2 zu vermeiden, wird der Referent die faule Marie immer durch dieselbe Vollform wiederholt:

Am 1. Tag ist die faule Marie noch sehr fleißig:

Die faule Marie kocht.

[…] Am 3. Tag arbeitet die faule Marie nicht.

Auf der Grundlage dieser Beobachtungen können wir bestätigen, dass einerseits im Text L.1 viele Pronomen vorkommen, die dem Text syntaktisch-semantischen Zusammenhang verleihen. Andererseits reduziert L.2 die Verwendung von Pronomen und bevorzugt die Vollformen, die einen präzisen semantischen Inhalt ausdrücken und dadurch leichter verständlich für die primären Adressaten sind.

Außerdem wird bei der Übertragung eine Vereinfachung der Syntax bewirkt. Um einfache und kurze Sätze zu bilden, werden komplexe Satzabfolgen in Leichte-Sprache-Texten in einfache Hauptsätze und bevorzugt Aussagesätze aufgelöst (Bredel & Maaß 2016: 101). Dabei wird zuvorderst die Anzahl der Nebensätze deutlich verringert bis teilweise annulliert, indem die Hauptsätze durch asyndetische Reihung oder durch Koordination verbunden werden, die von Konjunktionen (und) oder Adverbien (dann) ausgeführt wird. In dem Märchen L.1 werden neben Hauptsätzen viele Nebensätze (wie Kausal-, Relativ-, Temporal-, Final-, Konsekutivsätze usw.) verwendet. So besteht z.B. das folgende Satzgefüge aus einem Hauptsatz und aus einem Kausalsatz, der von der Subjunktion weil eingeführt wird «Sie hatte aber die hässliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber […]». In dem entsprechenden Leichte-Sprache-Text L.2 wird dasselbe Satzgefüge vereinfacht: «Die Frau hat aber die faule Marie viel lieber. Die faule Marie ist nämlich ihr eigenes Kind». Dem zweiten Hauptsatz wird das Adverb nämlich hinzugefügt, das eine kausale Beziehung vermittelt und begründet, was im ersten Hauptsatz steht.

Wie bereits erwähnt, ist die Anzahl der Nebensätze in Leichter Sprache auf ein Minimum reduziert, aber im Behördenbrief (A.2) finden wir einige Relativ-, Final-, und Konditionalsätze, die nicht in einfache Hauptsätze aufgelöst werden: «Wenn Sie keine Zeit haben, kann auch eine andere Person für Sie den Ausweis abholen», «Um den Ausweis abzuholen brauchen Sie […]», «Den Ausweis den Sie gerade haben». Das letzte Beispiel weist einen Fehler in der Interpunktion auf, indem das Komma nach Ausweis fehlt.

In der deutschen Sprache ist die Standardreihenfolge der Satzglieder SPO (Subjekt, Prädikat, Objekt), aber sehr oft werden Inversionen realisiert, aufgrund derer das Subjekt nicht immer die erste Stellung besitzt. Die bevorzugte Abfolge der Satzglieder in Leichter Sprache ist SPO. Um einen Themenwechsel oder ein bestimmtes Satzglied zu unterstreichen, kann diese Reihenfolge allerdings verändert werden, wie in den folgenden Beispielen: «Die Erklärung müssen Sie ausfüllen und unterschreiben», «Den Ausweis haben Sie schon bezahlt» (A.2); «Jeden Tag muss die fleißige Marie am Brunnen sitzen» (L.2).

Weitere Aspekte, die die Syntax betreffen, sind die Diathese, der Modus und die Tempusformen. Die Diathese kann entweder Aktiv oder Passiv sein: In den Standardtexten überwiegt das Aktiv, gleichermaßen in den Leichte-Sprache-Texten, weil durch diese Diathese das Agens im Vordergrund steht und daher leichter verständlich ist (Bredel & Maaß 2016: 130). Es wird dagegen empfohlen, das Passiv in Leichter Sprache zu vermeiden, weil es Ereignisse nicht vom Handlungsträger, sondern von der Geschehensperspektive her darstellt, die auf kognitiver Ebene schwerer zu verarbeiten als die Handlungsperspektive ist (Bredel & Maaß 2016: 130).

Der bevorzugte Modus in Standardsprache und – insbesondere – in Leichter Sprache ist der Indikativ, der als neutraler Modus gilt, um einen Sachverhalt als gegeben darzustellen (Der kleine Duden 2016: 128). In Bezug auf Tempusformen werden das Präsens und das Perfekt in Leichter Sprache verwendet, um gegenwärtige wie vergangene Ereignisse darzustellen; das Präteritum und das Plusquamperfekt werden grundsätzlich vermieden, denn sie haben keine Verbindung zum Hier und Jetzt (Bredel & Maaß 2016: 140-141). Nur die Modalverben, die Hilfsverben, und das Verb geben können in Leichter Sprache im Präteritum konjugiert werden (Bredel & Maaß 2016: 141). Zur Darstellung von Sachverhalten in der Zukunft verwendet die Leichte Sprache tendenziell das Präsens mit Zukunftsbezug zusammen mit einer Zeitangabe (Bredel & Maaß 2016: 141).

In den Textbeispielen A.1 und A.2 wird beide Male das Präsens verwendet; nur im Ausgangstext einmal das Präteritum (wurde […] entrichtet, mit Passiv Diathese) und im Zieltext das Perfekt (haben […] bezahlt). In dem Märchen (L.1) wird das Präteritum benutzt, weil dieses das klassische Erzähltempus vor allem der Narration darstellt (Fandrych & Thurmair 2018: 35, 39), während die Dialoge darin Präsens und Perfekt aufweisen. In der Märchenwiedergabe (L.2) finden wir statt des Präteritums die Zeitformen Präsens, Perfekt, und auch Futur I, wobei Letzteres eine Ausnahme bildet, da, wie bereits erwähnt, die Leichte Sprache tendenziell das Präsens mit Zukunftsbezug zusammen mit einer Zeitangabe verwendet, um zukünftige Sachverhalten darzustellen (Bredel & Maaß 2016: 141).

Was den Textaufbau der Leichte-Sprache-Texte betrifft, sind A.2 und L.2 nach den Anforderungen (Netzwerk 2009: 23) durch eine besonders übersichtliche visuelle Gestaltung gekennzeichnet: Der Fließtext wird in viele einzelne Absätze aufgeteilt, wobei sich pro Zeile nur ein Satz befindet (der Behördenbrief enthält eine Ausnahme, weil einige Sätze 2 Zeilen einnehmen), zwischen den Zeilen genug Abstand vorliegt, und keine Worttrennungen am Zeilenende eingebaut werden. Letztere könnten die Wortgestalt zerstören und würden daher von Lesern mit Lern- und Leseschwierigkeiten schwerer verarbeitet (Bredel & Maaß 2016: 177). Ein weiteres grafisches Merkmal, das in A.2 vorkommt, ist die Verwendung der Aufzählungszeichen. Zudem wird eine klare Schriftart, d.h. eine serifenlose Schrift, empfohlen, damit alle Buchstabenelemente erkennbar sind (Bredel & Maaß 2016: 175). Zierschriften wie in Abb. 8 werden daher in Leichte-Sprache-Texten vermieden (Bredel & Maaß 2016: 176).

Abb. 8: Beispiel einer Zierschrift in dem Märchen in Standardsprache (L.1)

Manchmal springen bestimmte Schlüsselwörter durch eine besondere Markierung optisch ins Auge (Bredel & Maaß 2016: 163). Die Fettdrucke werden meist verwendet, um bestimmte Wörter hervorzuheben wie der Fall in L.2, in dem nicht nur Leitbegriffe (fleißige Marie), sondern auch die Negationspartikel (nicht), negativ-indefinit Artikelwort (kein) markiert werden.

Bei einem Blick auf die zwei Textpaare fällt ein gewichtiger Unterschied in der Textanordnung auf: Während sich die Standardtexte horizontal entwickeln und die ganze Seite belegen, weisen die Leichte-Sprache-Texte einen vertikalen Entwicklungsverlauf auf, der sich der Form einer Textspalte annähert. Oft werden in Leichte-Sprache-Texten Bilder eingebaut. Die Hauptrolle dieses weiteren Zeichensystems liegt hier darin, zentrale Begriffe besser verständlich zu machen (Netzwerk 2009: 33) und Konkretisierungen abstrakter Konzepte zu vermitteln (Bredel & Maaß 2016: 180-183).

Abb.9: Unterschrift im ergänzenden Zeichensystem (A.2)

Wegen dieses besonderen Layouts, d.h. der vertikalen Textanordnung, der erhöhten Anzahl von Bildern, des Einbaus von erläuternden Beispielen und von Paraphrasierungen zur Verdeutlichung schwieriger Begriffe, sind die Leichte-Sprache-Texte viel umfangreicher als die Standardtexte.  Die ausgewählten Textsorten haben diese Entscheidung getroffen, um die Wahrnehmbarkeit zu optimieren und das Textverstehen zu erhöhen.

Leichte Sprache: kritische Überlegungen

In diesem Beitrag wurde die Bedeutung der Leichten Sprache als wirksames Mittel der Barrierefreiheit unterstrichen, weil durch sie nicht nur Menschen mit Lern- und Leseschwierigkeiten, sondern alle Interessierten garantiert aktiv an der Gesellschaft teilnehmen können. Nun soll ein abschließender Blick auf das Konstrukt Leichte Sprache geworfen werden, nicht so sehr in Bezug auf ihren gesellschaftlichen, politischen und sozialen Wert, als vielmehr hinsichtlich aus sprachwissenschaftlicher Sicht, mit Blick auf ihre entsprechende Gestaltung, die künstlich nach allgemeinen Leitlinien erfolgt.

Was die gewählte Lexik betrifft, geht die erforderte Verständlichkeit des Textes in Leichter Sprache oft auf Kosten einer stilistisch abwechslungsreichen „bunten Sprache“: Die Terminologie ist oft blass und repetitiv. Der Verzicht auf kohäsive Mittel hat beträchtliche Auswirkungen auf den Stil, der Gefahr läuft, monoton und repetitiv zu werden, weil Synonymie fehlt und Pronominalisierungen, Ellipsen und andere Formen der Textökonomie nur spärlich verwendet werden. Dies ist besonders problematisch, wenn wir es mit der Märchenwiedergabe zu tun haben, weil gerade für literarische narrative Texte die Verwendung von variierenden nominalen Vollformen typisch ist. Dagegen wird eine reine Wiederholung nominaler Formen als abweichend in der Literatur angesehen (Thurmair 2005: 90-92). Wenn das Prinzip der Variation nicht befolgt wird, ist das Endergebnis zwar ein verständlicher und zugänglicher Text, gleichzeitig aber ein Zieltext ohne kreative Abwechslung und mit Stilminderungen unterschiedlicher Art.

Vor allem bei der Übertragung literarischer Textsorten besteht daher die Gefahr, dass diese ihre literarische Wesenheit verlieren. Als Gegenargument kann jedoch hinzugefügt werden, dass die auf literarische Texte angewendete Leichte Sprache Teil einer kulturellen Operation ist, die vielen Menschen, darunter vielen Kindern, den Zugang zu Märchen und Erzählungen ermöglicht, die ihnen ohne diese Sprachvarietät möglicherweise unverständlich bleiben würden. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass gegenwärtig weiterhin nur wenige Märchen14 (darunter Rotkäppchen, Dornröschen) in Leichter Sprache verfügbar sind; die Klassiker der deutschen Literatur leider noch nicht, obwohl eine große Anzahl von diesen in Einfacher Sprache (vgl. Abb. 1) zur Verfügung steht.

Ein weiterer zu berücksichtigender Aspekt ist, dass die Vereinfachung auf lexikalischer und syntaktischer Ebene nicht unbedingt bedeutet, einen Text zu schreiben, der Fehler in der Interpunktion enthält (wie der des Behördenbriefs). So wie auf das Verfassen von Standardtexten geachtet wird, sollte dies auch bei Texten in Leichter Sprache der Fall sein. Aus diesem Grund kann man bestätigen, dass die Leichte-Sprache-Texte zweifellos einer größeren und tieferen Verarbeitung bedürfen und dass sie vorzugsweise von kompetenten Personen im Bereich der Sprachwissenschaft und nicht ausschließlich von Sozialarbeitern erstellt werden sollen. Heute ist es möglich, online nach Übersetzer-Berufsverbänden zu suchen, die sich auf interlinguale Übersetzung (zwischen zwei verschiedenen Sprachen) spezialisiert haben. Es wäre wünschenswert, dass es in Zukunft immer mehr Experten gibt, die Fachtexte auch in Leichte Sprache übertragen können.

In den letzten Jahren wird diese Sprachvarietät zunehmend anerkannt und legitimiert. So hat die Dudenredaktion im Jahr 2018 den Preis für die beste Fachübersetzung in Leichter Sprache ausgeschrieben15. Im Licht der Tatsache, dass die Leichte Sprache eine relativ junge, aber immer bedeutender werdende Erscheinung in der Sprachwissenschaft ist, können bestimmte Weiterentwicklungen zur Verbesserung der sprachlichen Qualität von Texten und zur Erhöhung der Übertragungen anderer literarischer Textsorten erwogen werden, um die besondere Rolle der Leichten Sprache für die Integration und Inklusion nicht nur innerhalb einer bestimmten Gesellschaft, sondern auch in einer zunehmend globalisierten und multikulturellen Welt zu schätzen und zu unterstützen.

Bibliografia

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Brinker Klaus, Cölfen Hermann, Pappert Steffen (20148), Linguistische Textanalyse. Eine   Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin, Erich Schmidt.

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Eroms Hans-Werner (2008), Stil und Stilistik. Eine Einführung, Berlin, Erich Schmidt.

Fandrych Christian, Thurmair Maria (2018), Grammatik im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Berlin, Erich Schmidt.

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Wellmann Katharina (2021), «Medio·punkt oder Binde-Strich? Eine Eyetracking-Studie», In: Gros A. et al. (Hrsg.), Leichte Sprache – Empirische und multimodale Perspektiven, Berlin, Frank & Timme, p. 23-42.

Sitografia

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Nüssli Nathalie Dominique (2018), Übersetzen in die Leichte Sprache. Übersetzungsprobleme, Übersetzungslösungen und Auswirkungen auf das Textverständnis von Menschen mit Downsyndrom – am Beispiel von Texten zum Thema Gesundheit, Winterthur: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, abgerufen am 06/08/2021, URL: <https://digitalcollection.zhaw.ch/bitstream/11475/16709/1/Graduate%20Papers%206_N%c3%bcssli.pdf>.

Offizielle Website Anffas Onlus, abgerufen am 09/10/2021, URL: <http://www.anffas.net/it/chi-siamo/la-nostra-storia/>; <http://www.anffas.net/it/progetti-e-campagne/progetti-conclusi /pathways-2/>.

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Prüfsiegel „Leichte Sprache – wissenschaftlich geprüft“ der Forschungsstelle Universität Hildesheim, abgerufen am 23/06/2021, URL: <https://www.uni-hildesheim.de/leichtesprache/forschung-und-projekte/pruefsiegel/>.

Testi analizzati

A.1 Behördenbrief in Standardsprache, abgerufen am 08/09/2021, URL: <https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-sm/intern/downloads/Publikationen/Handreichung_Leichte-Sprache-in-der-Verwaltung_barrierefrei.pdf> (p. 42, 44).

A.2 Behördenbrief in Leichter Sprache, abgerufen am 08/09/2021, URL: <https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-sm/intern/downloads/Publikationen/Handreichung_Leichte-Sprache-in-der-Verwaltung_barrierefrei.pdf> (p. 43-45).

L.1 Das Grimm’sche Märchen Frau Holle in Standardsprache, abgerufen am 08/09/2021, URL: <https://www.projekt-gutenberg.org/grimm/maerchen/chap051.html>.

L.2 Die Märchenwiedergabe in Leichter Sprache, abgerufen am 08/09/2021, URL: <https://www.ndr.de/fernsehen/barrierefreie_angebote/leichte_sprache/Frau-Holle,frauholleleichtesprache100.htm>.

Note

  1. Geschichte der Leichten Sprache: <https://www.leichte-sprache.org/der-verein/die-geschichte/>.
  2. Offizielle Website Mensch zuerst: <http://www.menschzuerst.de/pages/startseite.php>.
  3. Artikel 3, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Zusatz 1994.
  4. Leichte-Sprache-Texte als Übertragungen: <https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Praxishilfen/Information-und-Kommunikation/Leichte-Sprache/leichte-sprachenode.html>.
  5. Eintrag “übertragen” im Duden Onlinewörterbuch: <https://www.duden.de/rechtschreibung/uebertragengebraucht>.
  6. Offizielle Website Anffas Onlus: <http://www.anffas.net/it/chi-siamo/la-nostra-storia/>;

    <http://www.anffas.net/it/progetti-e-campagne/progetti-conclusi/pathways-2/>.

  7. Presidenza del Consiglio dei Ministri – Dipartimento per la funzione pubblica (1994), Codice di stile delle comunicazioni scritte ad uso delle amministrazioni pubbliche. Proposta e materiali di studio, Roma, Istituto poligrafico e zecca dello Stato, S. 25, 37 (ab hier Il Codice di stile).
  8. Il Codice di stile, S. 30.
  9. Il Codice di stile, S. 31, 35.
  10. Die von jetzt an verwendeten Abkürzungen sind: „A“ für Alltagstext, „L“ für literarischen Text; „1“ für Standardsprache/Ausgangstext, „2“ für Leichte Sprache/Zieltext. Die Layout-Einteilung entspricht dem Original.
  11. Wellmann (2021: 29) beschreibt „schwierige Wörter“ folgendermaßen: «Als ‚schwierige Wörter‘ gelten in Leichter Sprache solche Wörter, die nicht zum Grundwortschatz gehören und denen meist eine Begriffserklärung mit einfachen Wörtern vorausgeht».
  12. Der Infinitiv bei brauchen mit zu wird in der geschriebenen Sprache vorgezogen. Dagegen wird zu besonders in der gesprochenen Umgangssprache oft weggelassen (Der kleine Duden 2016: 100-101). In dem Leichte-Sprache-Text (A.2) kommt das Verb brauchen ohne zu vor, das informelle umgangssprachliche Stil und Register gekennzeichnet.
  13. Nur die Höflichkeitsform Sie ist erlaubt, mit der die Leser direkt und persönlich angesprochen werden. Außerdem wird mit der Verwendung des Pronomens Sie eine Beziehung zwischen dem Autor und dem Leser des Textes hergestellt, wodurch Letzterer in das Thema involviert werden soll (daher liegt in der Regel die Kontaktfunktion vor; vgl. Brinker 20148).
  14. Märchen in Leichter Sprache: <https://www.ndr.de/fernsehen/barrierefreie_angebote/leichte_sprache/Maerchen-in-Leichter-Sprache,maerchenleichtesprache100.html>.
  15. Dudenredaktion und Leichte Sprache: <https://www.duden.de/leichte-sprache-preis>.
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