Elemente der Fachsprache in Faust als Nationalsozialist von Alexander Kluge

Einleitende Bemerkungen zur Einteilung der Fachsprachen

Die Fachsprache ist eine Kategorie, die in einem bestimmten, meist akademischen Fachgebiet oder einer Branche benutzt wird. So unterscheidet man Fachsprachen der Naturwissenschaften (z.B. Physik, Chemie, Biologie), Fachsprachen der angewandten Wissenschaften (Medizin, Tierproduktion, usw.), Fachsprachen der technischen Teildisziplinen (Maschinenbau, Elektrotechnik, usw.) und die große Gruppe der geisteswissenschaftlichen Fachsprachen, so z. B. der Philologie und Ökonomie.

Zur Fachsprache gehören vor allem Fachbegriffe und Fremdwörter, die entweder außerhalb des Fachgebiets sehr ungebräuchlich sind, oder eine andere Bedeutung haben. Eine Fachsprache unterscheidet sich von der Gemeinsprache: Gemeinsprache ist eigentlich ein Fachwort, das für die Sprache des Alltags oder eine Sprache steht, die man einfach verstehen kann, selbst wenn man nicht ein Wissenschaftler oder ein Forscher ist. Weitere wichtige Merkmale sind eine differenzierte Verwendung von Wortbildungsverfahren (s. insbesondere Ickler 1997: 105-116) und in der Syntax das Vorherrschen des Nominalstils und der unpersönlichen Konstruktionen, die es ermöglichen, die „subjektive Rolle des Sprechers“ zu unterdrücken (Bußmann 2008: 186-87).

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es nicht nur eine einheitliche Fachsprache gibt, sondern eine Vielzahl von Fachsprachen, die horizontal nach verschiedenen Fächern und vertikal nach verschiedenen Abstraktions- und Kommunikationsebenen unterschieden werden können (Roelcke 2020: 41). Die horizontale Gliederung teilt die Fachsprache unter dem Gesichtspunkt der Fächer und Fachbereiche ein und richtet sich dabei nach Fächergliederungen und Fachbereichseinteilungen, die „unabhängig von innersprachlichen Erscheinungen zustande gekommen sind“ (Roelcke 1999: 34). Die Basis-Gliederung ist diejenige nach einzelnen Fachsprachen der Wissenschaft, der Technik und der Institutionen (Steger 1988). Hartwig Kalverkämper (1988: 102) hat diese Gliederung noch um zwei weitere fachsprachliche Bereiche, die Wirtschaftssprache und die Konsumtionssprache, erweitert.

Im Gegensatz zur horizontalen Gliederung zeichnet die vertikale Schichtung die Abstraktionsebenen des einzelnen Faches nach. Ischreyt (1965) als der namhafteste Begründer dieser Gliederungsform geht von drei fachlichen und sprachlichen Abstraktionsebenen aus: Wissenschafts-, fachliche Umgangs- und Werkstattsprache. Die zuerst angeführte, d. h. die Wissenschaftssprache, repräsentiert die oberste Stufe. Danach folgt auf der mittleren Stufe die fachliche Umgangssprache, die meist mündlich realisiert wird. Die sogenannte Werkstattsprache stellt die unterste Stufe dar, die sowohl mündlich als auch schriftlich vor allem in Produktion oder Verkauf gebraucht wird. Darauf aufbauend führt Lothar Hoffmann (1985) fünf Abstraktionsebenen an: die obere Abstraktionsebene wird von der Sprache der theoretischen Grundlagenwissenschaften eingenommen, auf der zweiten Stufe ist die Sprache der experimentellen Wissenschaften angesiedelt, die dritte enthält die Sprache der angewandten Wissenschaften und der Technik, die vierte die Sprache der materiellen Produktion und die fünfte abschließend die Sprache der Konsumtion.

Fachsprachliche Bestandteile in der Prosa von Alexander Kluge

Der Schriftsteller Alexander Kluge (14. Februar 1932 in Halberstadt), Verfasser des Erzählfragments Faust als Nationalsozialist, kann als eine Art Hybrid der Literatur betrachtet werden, weil er neben seiner Tätigkeit als Buchautor gleichzeitig auch ein erfolgreicher Regisseur und Drehbuchautor ist1. Kluges philosophische und ästhetische Standpunkte rekurrieren auf Theodor W. Adorno und Walter Benjamin und sie werden zumeist unmittelbar oder mittelbar mit der kritischen Theorie der Frankfurter Schule in Verbindung gebracht. Kluge benutzt alle Ausdrucksformen, um ein möglichst großes Publikum zu beeinflussen. Seine Kunst widerspiegelt die Zersplitterung der Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des Kalten Krieges. Häufig stellt er den Leser vor eine Prosa, die die verschiedenen traditionellen Formen des Schreibens aufbricht. Diese Dichtungsform, ganz konzentriert auf den Vorgang des Lesens selbst, ist ein brechtianisches und ėjzenštejnisches Erbe. Wenn man Kluges Werk liest, hat man ein berechtigtes Gefühl einer Verknotung des Gewebes als textus – das Gleiche gilt, ebenso legitim, für seine Filme. In der Tat entfernt sich sein Verständnis sowohl für literarische als auch für filmische Bereiche von den stereotypen Formen der Tradition, um neue diegetische Lösungen zu finden. Er verwendet unterschiedliche Fachsprachen sowie Graphiken, Fotos und Fußnoten, um ein breites und heterogenes Handlungsfeld zu erreichen. Es ist wichtig, die Tatsache zu berücksichtigen, dass Kluge Literatur und Wissenschaft als Einheit sieht und dass in seinem Werk diese beiden Bereiche in vielen Variationsformen koexistieren. In Bezug auf die Verwendung von Fachsprachen generell in Kluges Werk ist es notwendig zu unterstreichen, dass „diese nicht dokumentarisch als Belege für die dargestellte Wirklichkeit benutzt werden. Vielmehr wird sprachreflexiv auf sie hingewiesen, um den abstrakten Charakter dieser geschlossenen Sprachsysteme zu verdeutlichen“. (Costagli 2009: 311)

Faust als Nationalsozialist befindet sich in der Sektion Heidegger auf Krim der Sammlung Chronik der Gefühle (erschienen im Jahr 2000), die in zwei Bänden sämtliche erzählerischen Texte Alexander Kluges in einem Schema versammelt, das wie die Erinnerung wirkt: von der Gegenwart rückwärts. Sein primäres Ziel in dieser Sammlung ist, wie er im Vorwort schreibt, vielschichtig:

Was haben wir von 1945 über die Spiegel-Krise 1962, den Aufbruch von 1968, den Herbst 1977, den Beinahe-Dritten-Weltkrieg von 1981 bis 1984, über Techno, die Wiedervereinigung, Silvester 2000 nicht alles an Scheinveränderung und realen Metamorphosen erlebt (und das Gefühl, das länger empfindet, fügt Ereignisse von bis zu 6000 Jahren hinzu)! Und zugleich verändert sich das menschliche Lebewesen so wenig. Die Bibliothek von Alexandria brennt für mich noch heute. Das ist es, was ich erzählenswert finde. (Kluge 2000: 7)

Insbesondere die Sektion Heidegger auf der Krim reproduziert das topische Motiv des Paktes mit dem Teufel. Für den berühmten Psychoanalytiker Sigmund Freud, der das Motiv des Teufelspaktes gründlich analysierte, stellt der Teufel nichts anderes als die Projektion in die reale Welt der existierenden Elemente der Psyche von beunruhigten Menschen dar:

Die dämonologische Theorie jener dunkeln Zeiten hat gegen alle somatischen Auffassungen der „exakten“ Wissenschaftsperiode recht behalten. Die Besessenheiten entsprechen unseren Neurosen, zu deren Erklärung wir wieder psychische Mächte heranziehen. Die Dämonen sind uns böse, verworfene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener, verdrängter Triebregungen. Wir lehnen bloß die Projektion in die äußere Welt ab, welche das Mittelalter mit diesen seelischen Wesen vornahm; wir lassen sie im Innenleben der Kranken, wo sie hausen, entstanden sind. (Freud 2010: 21)

Obwohl die erste große literarische Bearbeitung des Faust-Mythos in der angelsächsischen Welt mit Marlowes The Tragical History of Doctor Faustus (1604) einsetzte, gewinnt das Motiv des Teufelspakt vom 18. Jahrhundert an immer mehr an Gewicht in der germanischen Tradition2. Wenn man den vorliegenden Fall analysiert, stellt sich der Handlungsablauf in etwa so dar: im Jahr 1944 ist der Teufel ein syrischer »Kälteforscher«, der in seinem Labor in Wittenberg über eine alchemische Ausrüstung verfügt, die auf die Erzeugung von Kältewirkungen bis unter 2 Grad Kelvin spezialisiert ist. Der Protagonist der Geschichte, Wolfgang Wegeleben, hat von seinem verstorbenen Großonkel, dem Genforscher Fritz Wegeleben, gefrorene Zellen erhalten, die aus dem Labor des Syriers kommen, mit dem der Großonkel einen Pakt abgeschlossen hatte. Wolfgang und Fritz werden also zu derselben Person und die Grenze zwischen den beiden neigt dazu, sich wie eine Welle, die sich dem Ufer nähert, zu glätten:

Allmählich erkenne ich mich schattenhaft selbst. […] Selbstverständlich bin ich mit Dr. theol. Wolfgang Wegeleben identisch, dem Großneffen des Gen-Forschers Prof. med. und theol. Fritz Wegeleben, der an der Reichsuniversität Straßburg zuletzt im Jahr 1945 gesehen wurde. SS-Standartenführer- und Ärzteführer. Nach der mehrfachen Einfügung von gefrorenen Zellen meines Verwandten in die Stellen meines Hirns, wo der Tumor saß, befinde ich mich in Auseinandersetzung meiner gewohnten Person mit einer ungewohnten Ahnung; ich empfinde mich bereits zeitweise als Fortsetzung meines nationalsozialistischen Verwandten. Es ruft in mir: ja, ich bin ein anderer, und ich wüßte nicht, wozu genau ich Ich sagen sollte. Eine Furcht oder Irritation ist damit nicht verbunden. Die Personen in mir «springen». (Kluge 2000: 488)

Wie aus dem obigen Textteil ersichtlich wird, ist ein weiterer charakteristischer Aspekt die totale und absolute Untergebenheit des Großonkels dem Nationalsozialismus gegenüber. Obwohl dieses Thema nicht als Leitmotiv der Arbeiten von Kluge bezeichnet werden kann, ist es in der Textdynamik des Autors durchaus präsent. Um nur ein Beispiel zu nennen, erscheint in Ein Nazi der Wissenschaft ein Hirnforscher namens P. Gartmann, von dem folgendes gesagt wird:

Gartmann war Nationalist. Durch Studium der Wurzeltexte war er Marxist. Seiner Parteizugehörigkeit nach war er Sozialdemokrat. Beruflich Erwachsenenbilder. Sein Lebensziel sah er: als Wissenschaftler. Dies kann aber, nach allem, was schon gesagt wurde, nur im anti-professionellen Sinn gelten, da man Wissenschaft nicht »haben« oder »sein« wollen kann – sie wird angeeignet, d.h. verschwindet rasch. Er ging also strikt als Laie vor. (Kluge 1977: 398; Kursivsetzungen im Original)

Aber wenn im Falle dieser Geschichte der Protagonist unter der Linse der Sympathie gesehen wird, ist die Situation in Faust als Nationalsozialist anders. Hier wird die Inklination zur nationalsozialistischen Ideologie negativ gewertet. Trotz der ironischen Klammern, welche die Gefahr des Fortschritts – verbunden mit einer nietzscheanischen ewigen Wiederkunft der Ideen (auch der bösen) – einschieben, wird die nationalsozialistische Ideologie in der Gestalt von Wegeleben vergegenständlicht.

Der Mythos wird in der deutschen Kultur seit jeher mit einer tiefen Ambivalenz betrachtet, und es ist kein Zufall, dass Károly Kerényi zwischen “echten” und “technisierten” Mythen unterscheidet, wobei erstere spontan entstehen und letztere von Menschen zur Erreichung ihrer Ziele eingesetzt werden (Kerényi 1994: 153-168). Der arische Mythos, der von Dr. Wegeleben weitergetragen wird, scheint in diesem Sinne unendlichen Metamorphosen und endlosen Auferstehungen unterworfen zu sein. Ebenso versucht Dr. Hoechst in der gleichnamigen pièce von Menasse (2009), sein Simulakrum zu verewigen, wobei hier das Experiment keinen Erfolg zeitigen wird. Wie der Protagonist Wegeleben im das Prosa-Stück abschließenden Interview behauptet, kann Liebe wegen ihrer Hinfälligkeit nicht toleriert werden. Es ist dabei aber zu unterstreichen, dass der Nationalsozialismus als Kern die Liebe für die arische Rasse hat und nach diesem Prinzip das Andere nicht akzeptiert. Kluge zeigt damit auf eindeutige Weise die Widersprüchlichkeit des nationalistischen Systems sowohl in seiner metaphorischen als auch in seiner wörtlichen Komponente.

Analyse der fachsprachlichen Lexik

Wie oben dargestellt, dringt Kluge in das semantische Feld der Psychologie ein. Sigmund Freud war der Vater der modernen Psychologie, er übernahm seine Forschungen über das Ich von Georg Groddeck, der die Theorie aufstellte, dass das Ich passiv ist und der Mensch von unkontrollierbaren Kräften erlebt wird. Laut Groddeck werden diese unkontrollierbaren Kräfte durch das Es repräsentiert, das als eine Erweiterung des Ichs betrachtet wird, das sich unbewusst verhält. Faust als Nationalsozialist zeigt durch das Thema des Unbewussten deutlich tiefgreifende psychoanalytische Einflüsse. Allerdings liegt der Fokus dabei, wie der Titel schon sagt, (auch) auf dem Dogma des Nationalsozialismus. Die neue Realität des Protagonisten, dem die Zellen seines verstorbenen Großvaters transplantiert wurden, wird durch den Begriff des „Hybriden“ definiert, wie der Protagonist sich im Übrigen selbst als „Hybride“ (Kluge 2000) bezeichnet. Hybrid ist ein Fachwort für ein Gebilde aus zwei oder mehreren Komponenten.

Unter den zahlreichen fachsprachlichen Komposita in der Erzählung verdient der philosophische Begriff Übermensch, den Nietzsche in der vieldeutigen Lehrdichtung Also sprach Zarathustra einführte, Beachtung. Im ersten Teil beginnt Zarathustra seine Tätigkeit als Lehrer mit den Worten «Ich lehre euch den Übermenschen» (Nietzsche 1883: 9) und stellt diese Lehre sogleich in den Kontext des Darwinismus, der Überwindung des Menschen und der Kulturkritik. Nur durch eine zerstörerische Kraft, die Nietzsche durch die Metapher des aufkommenden, wehenden Tauwindes symbolisiert, der den Menschen aus seiner winterlichen Starre löst und somit alles wieder in einen Fluss bringt, kann diese Überwindung beginnen: Nietzsche entwickelt eine auf die Zukunft weisende, an der Zukunft ausgerichtete progressive Anthropologie. Der Nationalsozialismus hat dieses Konzept bekanntlich für die Vorstellung der “arischen Rasse” missbraucht und dadurch die Botschaft des deutschen Philosophen in ein falsches Licht gebracht. Kluge verwendet dasselbe missbrauchte Wort absichtlich in einem Text, der die Dogmen des Faschismus in Frage stellt:  »Wie durch eine endlos lange, schraubenwandige Röhre sehe ich durch die eines anderen, der ich ebenfalls bin, in die Welt. ZUFALL MENSCH heißt das neue Buch von Gould (Januar 1977), und meine Existenz als biologisch unwahrscheinlicher Hybride (»Doppelmensch«, »Übermensch«, »Alterloser Mensch«) beruht auf einer Kette von Zufällen, die die Vorsehung gelenkt haben mag.« (Kluge 2000: 488)

Ein weiteres fachliches Kompositum in der Erzählung ist die Welt-Eis-Theorie, morphologisch gebildet durch die Zusammensetzung dreier Substantive. In der Erzählung wird damit die ab 1894  von Hanns Hörbiger, einem österreichischen Ingenieur, entwickelte Theorie der sogenannten Welteislehre oder Glazialkosmologie beschrieben, die davon ausging, das Universum sei zu großen Teilen aus gefrorenem Wasser zusammengesetzt. Die nur auf einem intuitiven Impuls basierende Theorie sollte zum Bestandteil der vielen ungeprüften Theorien des Nationalsozialismus werden. Ab Mitte der dreißiger Jahre wurde sie politisch gefördert, indem der SS-Reichsführer Heinrich Himmler verlangte, dass die Welteislehre in die nationalsozialistische „Forschungsgemeinschaft deutsches Ahnenerbe“ integriert werde. Damit war die Theorie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg diskreditiert. Die Mondlandung 1969 bewies dann definitiv ihre Absurdität. In der Erzählung ist das Konzept der Kryogenese (s.u.) sehr wichtig; es bildet eine seiner wesentlichen Isotopie-Ketten, wie in einem späteren Abschnitt näher dargestellt wird.

Der Text enthält weitere wortgebildete Fachwörter, von denen die wichtigsten im Folgenden aufgeführt werden:

Wortbildungen

Wortbildungen verfügen über eine binäre oder nichtbinäre Struktur. Die binären Wortbildungsarten sind Komposition, Derivation und Partikelverbbildung. Nichtbinäre Wortbildungsarten sind die Konversion und die Kurzwortbildung. Auch Rückbildungen, Kontaminationen und Reduplikationen kann man nicht in unmittelbare Konstituenten gliedern (Fleischer, Barz 2012: 83).

Die Komposition ist einer der produktivsten Bereiche der fachsprachlichen Wortbildung im Deutschen und sie ist auch ein Zeichen der sprachlichen Ökonomie3[1]. Wie bereits erwähnt, haben wir viele Fälle von Komposition in Faust als Nationalsozialist. Im Text sind es überwiegend Substativkomposita (z.B. Doppelmensch, Gen-Forscher, Welt-Eis-Theorie, Einzelkomponente).  Morphologisch werden Komposita nach der Wortart des letzten Elements im Kompositum (genannt auch «Grundwort» oder «Base») klassifiziert.

Die Derivation ist die Kombination von einem frei vorkommenden Wort mit einem unselbstständigen Morphem (Fandrych, Thurmair 2018: 71). Die deverbativen Ableitungen sind zur Bezeichnung von Personen oder Geräten in der deutschen Fachsprache von besonderer Bedeutung. Dies gilt insbesondere für die Verwendung des Suffixes -er4. In der Erzählung findet sich das Wort Seher, das durch Hinzufügen des deverbativen Suffixes –er an das Verb sehen gebildet wird.

Unter den weiteren möglichen Derivationssuffixen, die für die Nominalisierung geeignet sind, stehen  -ung, -heit und –keit an erster Stelle (Ickler 1997: 114). Im Text findet man viele Beispiele davon:

Wie aus der Tabelle ersichtlich wird, ist das Suffix –ung das am häufigsten verwendete. Dies entspricht auch der Verteilung in den Fachsprachen (ebd.).

Ein weiterer Mechanismus der Wortbildung in der deutschen Fachsprache ist die Konversion, die als besonderer Ableitungsprozess ein Lexem in eine neue Lexemklasse überführt, ohne Derivations-Affixe anzufügen. Im gewählten Text fallen unter diesem Aspekt die häufigen Substantivierungen von Infinitiven auf, wie z.B. das Schreiben, das Reisen, das Verwandeln.

Kohäsion und Kohärenz

Kohäsion und Kohärenz sind die wichtigsten Textualitätskriterien und sind engstens miteinander verbunden, da sie die Oberflächen-und Tiefenstruktur des Textes bezeichnen.

Kohäsion »betrifft die Art, wie die Komponenten des Oberflächentextes, d.h. die Worte, wie wir sie tatsächlich hören oder sehen, miteinander verbunden sind« (De Beaugrande, Dressler 1981: 3). Die Kohäsion, um die Definition von Hans-Werner Eroms (2008: 42) zu verwenden, »bezeichnet die expliziten grammatischen Abhängigkeiten […], sowie die lexikalischen und phonologischen Verbindungen. Dazu gehören die Einheitlichkeit des temporalen Aufbaus […], die Rekurrenz […] und die Verkettung durch Pro-Formen«.

Bei der lexikalisch-semantischen Kohäsion wird das Schlüsselwort hauptsächlich unter lexikalisch-semantischen Gesichtspunkten wiederaufgenommen. Hier ein kleines Beispiel aus dem ausgewählten Text:

– Sie strapazieren die Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht. Was weiß ich (oder was weiß die Wissenschaft), ob Sie als Doppelmensch nicht zum Mörder werden? Wer haftet dann, Fritz Wegeleben oder Wolfgang Wegeleben?

– Wieso Mörder, wenn beide Einzelkomponenten der Person keine Mörder waren?

– Man weiß es nicht. Ein Nationalsozialist kann zum Mörder werden. (Kluge 2000: 488)

In diesem Fall handelt es sich um eine einfache Wiederholung mit gleicher Referenz, weil das Wort Mörder mehrmals wörtlich wiederholt wird. Es gibt aber auch andere Situationen, in denen die Wiederholung nicht textlich ist und es sich daher um eine partielle Wiederaufnahme handelt:  »Die Voraussetzung für das Melden, nämlich eine gemeinsame Vorstellung von Meldebehörde und Meldendem über die GRUNDRISSE DER REALITÄT«. (Kluge 2000: 488).

Es ist auch möglich, auch einen Gebrauch von (partiellen) Synonymen zu finden: »Selbstverständlich ist der Teufel (Mephistopheles, Baal-Berzth, Satan, nicht dagegen: Luzifer) kein Jude.« (Kluge 2000: 486). Oder, um ein anderes Beispiel zu erwähnen:

ZUFALL MENSCH heißt das neue Buch von Gould (Januar 1997), und meine Existenz als biologisch unwahrscheinlicher Hybride («Doppelmensch», «Übermensch», «Altersloser Mensch») beruht auf einer Kette von Zufällen, die die Vorsehung gelenkt haben mag. Selbstverständlich bin ich mit Dr. theol. Wolfgang Wegeleben identisch, dem Großneffen des Gen-Forschers Prof. med. und theol. Fritz Wegeleben, der an der Reichsuniversität Straßburg zuletzt im Jahr 1945 gesehen wurde. (Kluge 2000: 488)

Ein weiterer Weg ist die Paraphrasierung:

Seit 15000 Jahren beobachten wir, sagt mein Syrer, die landwirtschaftliche Revolution. Sie ist verbunden mit einer kontinuierlichen Zunahme der Bevölkerung, ein Garten Eden, der sich auf Wanderpfad befindet. Die genbiologische Revolution und die nationalsozialistische Industralisierung des Bewußtseins sind die nächsten Stufen der agrarischen Revolution. »Laßt 5-10-1000 Menschen in uns sein!«. Als Mediziner kann ich bestätigen, sagt Wegeleben (beide), daß ein Leib für 1000 Seelen ausreicht. (Kluge 2000: 490)

Eine andere mögliche Methode ist der Gebrauch von Hyponymen und Hyperonymen. Bei dem Hyponym handelt es sich um den Unterbegriff, bei dem Hyperonym um den Oberbegriff. In einem Kontext wie dem folgenden untersucht der Protagonist die Stadien dessen, was er als die nationalsozialistische Evolution der Gesellschaft betrachtet:

Wir Nationalsozialisten sind in erster Linie Ingenieure. Unsere Revolution ist eine Bewegung des Macherwillens. Anders gesagt, wir sind die Ingenieure der Evolution (Hyperonym). […]   Die genbiologische Revolution (Hyponym) und die nationalsozialistische Industrialisierung (Hyponym) des Bewußtseins sind die nächsten Stufen der agrarischen Revolution (Hyponym). (Kluge 2000: 490)

Bei der syntaktischen Kohäsion gibt es nur eine einzige syntaktische Wiederaufnahme durch eine Pro-Form, die anaphorisch oder kataphorisch sein kann. Hier ein Beispiel:

Wir Nationalsozialisten (Vollform) sind in erster Linie Ingenieure. Unsere (Pro-Form) Revolution ist eine Bewegung des Macherwillens. Anders gesagt, wir (Pro-Form) sind die Ingenieure der Evolution. […] Wir (Pro-Form) können nicht annehmen, auf dieser Erde unsere (Pro-Form) Idee zu verwirklichen, deshalb scheiterten wir (Pro-Form) auch in unserem (Pro-Form) ersten Ansatz, verstrickten das Land und uns (Pro-Form) in Schuld. (Kluge 2000: 490)

Das hier gezeigte Beispiel zeigt eine anaphorische syntaktische Kohäsion, die dann eintritt, wenn ein bereits erwähntes Wort oder komplexes Element durch eine Pro-Form ersetzt wird. Bei der kataphorischen syntaktischen Konstruktion hingegen bezieht sich die Pro-Form auf ein noch nicht erwähntes Element und verweist somit auf einen nachfolgenden Satz, wie im folgenden Beispiel:

Er habe (Pro-Form), sagte mir der Syrer, in Smyrna und einigen Labors auf Sizilien bei verschiedenen Meistern gelernt. (Kluge 2000: 487)

Während sich die Kohäsion auf die Oberflächenstruktur eines Textes bezieht (Syntax, Wortschatz, Rhythmus usw.), bezieht sich die Kohärenz auf die kommunikative und logisch-semantische Substanz des Textes, auch Tiefenstruktur genannt. Wenn es um Textkonsistenz geht, kann der Begriff „Isotopie“, der aus der Chemie kommt und die Wiederkehr von Wörtern desselben Bedeutungsbereichs in einem Text andeutet, verwendet werden (Bußmann 2002: 322). Die Isotopie-Ketten sind der lexikalische Ausdruck der semantischen Kohärenz eines Textes5. Eroms (2008:48) präzisiert: »Unter Isotopie wird in der Textlinguistik die Identität semantischer Merkmale, die sich in den Wörtern finden lassen, verstanden«.

Was die Erzählung von Kluge betrifft, so gibt es vier Haupt-Isotopieketten:

Schlussfolgerungen

Durch die Isotopieketten werden die einzelnen Themen und Handlungsstränge des literarischen Textes miteinander verbunden.  Insbesondere sind es die Fachwörter, welche das thematische Gerüst des Textes über diese Kohärenzverkettungen aufbauen. Auf der Oberflächenseite des Textes, seiner Textkohäsion, werden dabei oft Wortbildungsverfahren (vor allem Substantivkomposition und Nominalisierung durch Derivation) verwendet, wie auch Hyponyme/Hyperonyme, Paraphrasen und die Abwechslung von Pro- und Vollformen.

In diesem Text verwendet Kluge den Faust-Stoff und erzielt seine Dekomposition unter systematischem Einbezug der Fachsprache der Medizin in Verbindung mit den fiktiven Fachsprachen des Nationalsozialismus. Kluge zeigt auf, dass der Nationalsozialismus durch seine Leichtgläubigkeit letztendlich im Kern die Wissenschaft selbst negiert. Auf diese Weise entsteht ein komplexes und vielfältiges Gewebe, jeder Referent wird in Frage gestellt und das erzählerische Thema verliert absichtlich seinen semantischen Kern, um einen anderen, mehrdeutigen oder weniger linearen zu erwerben. Dieses Verfahren, obwohl es das Lesen schwierig macht, sorgt für die Bereitstellung von Helldunkel, hinter dem die Wahrheit, der Sinn der Geschichte, unerreichbar bleibt. Der Einbezug der Fachsprache unterstützt diese moderne auktoriale Theorie.

Bibliografia

Primärliteratur

Kluge Alexander (2000), Chronik der Gefühle, Bd. 1, Suhrkamp.

Fachliteratur

Bußmann Hadumod (20084 [1983]), Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart, Kröner.

Costagli Simone (2009), »Unmenschliches, allzu menschlich. Experiment und Wissenschaft bei Alexander Kluge«, In: R. Calzoni / M. Salgaro (Hrsg.): »Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment«. Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht.

De Baugrande Robert-Alain, Dressler Wolfgang Ulrich (1981), Einführung in die Textlinguistik, Berlin, De Gruyter.

Eroms Hans-Werner (2008), Stil und Stilistik. Eine Einführung, Berlin, Erich Schmidt Verlag.

Fleischer Wolfgang; Barz Irmhild (2012), Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, Berlin/Boston, De Gruyter.

Freud Sigmund (1923), »Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert«, In: Imago, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud, IX. Band, Heft 1.

Hepp Marianne (2018), Paralleltexte und linguistische Textanalyse, Pisa, Arnus University Books.

– (2012), Wortbildung als Mittel der Textkonstitution, Pisa, Arnus University Books.

Hoffmann Lothar (1985), Kommunikationsmittel Fachsprache. Eine Einführung, Tübingen, Narr.

Ickler Theodor (1997), Die Disziplinierung der Sprache. Fachsprachen in unserer Zeit, Tübingen, Gunter Narr Verlag.

Ischreyt Heinz (1965), Studien zum Verhältnis von Sprache und Technik, Düsseldorf, Schwann.

Kalverkämper Hartwig (1988), „Die Fachwelt in der allgemeinen einsprachigen Lexikographie (deutsch – englisch – französisch – italienisch).“ Fachsprache. Internationale Zeitschrift für Fachsprachenforschung, Didaktik und Terminologie 10, 98–123.

Kluge Alexander (1977), »Ein Nazi der Wissenschaft«, In: Neue Geschichten. Hefte 1-18, Suhrkamp.

Nietzsche Friedrich (1883), Also sprach Zarathustra, Bd. 1, Chemnitz.

Roelcke Thorsten (20204), Fachsprachen, Berlin, Erich Schmidt Verlag.

Rossi Francesco (2014), Variazioni poetiche di modelli evolutivi. Thomas Mann e l’Homo aestheticus, «Prospero. Rivista di letterature e culture straniere», XIX, Trieste, EUT Edizioni Università di Trieste.

Schmidt Wilhelm (1969), Charakter und gesellschaftliche Bedeutung der Fachsprache. In: Sprachpflege- Zeitschrift für gutes Deutsch 18, Leipzig, Bibliogr. Inst.

Steger Hugo (1988), „Erscheinungsformen der deutschen Sprache. Alltagssprache – Fachsprache – Standardsprache – Dialekt und andere Gliederungstermini.“ In: Deutsche Sprache 16, 289–319.

Zenobi Luca (2013), Faust. Il mito dalla tradizione orale al post-pop, Roma, Carocci.

Note

  1. Im Folgenden eine Aussage dieses Autors, die sehr wichtig ist, um seine Kunstauffassung zu verstehen: »Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, dass Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, dass die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen.« (Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, 1993).
  2. Es gibt eine lange literarische Tradition von Lessing über Goethe und Thomas Mann bis hin zu zeitgenössischen Autoren wie Alexander Kluge selbst und Robert Menasse. Eine sehr genaue Untersuchung ist zu finden in Costagli 2013. Zur zeitgenössischen Evolutionstheorie bei Thomas Mann gibt eine wichtige Analyse in Rossi 2014 es.
  3. Im Guinness Buch der Rekorde findet man ein unglaublich langes Wort, Donaudampfschiffahrtsgesellschaftsgewerkschaftshauptquartier, das in der Zwischenkriegszeit auf einem Hausschild im II. Wiener Gemeindebezirk tatsächlich zu finden war. Die deutsche Sprache ist für ihre überlangen Komposita bekannt.
  4. Das Suffix wird aus lat. -arius hergeleitet, woraus sich der Umlaut der Derivationsbasis erklärt.
  5. Bei Zeitungsartikeln und –essays gehen die thematischen Haupt-Isotopieketten oft vom Titel aus (s. dazu ausführlicher Hepp 2018: 54-59).
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